01 Mai 2008

HH-COE Tag 2 "Suicidal Tendencies und der schönste Radweg bisher"

Eine Nacht ohne Schlaf war das. Satt zwar und durchaus zufrieden, aber ruhelos irgendwie. Kochend heiß war das Blut durch meine Beine pulsiert, vor allem die Waden hatten keine Ruhe gegeben. Immer wieder musste ich mich von einer auf die andere Seite werfen, mich drehen und wenden, um eine erträgliche Bettposition zu finden.

Aber ich war nicht der einzige ohne Schlaf, denn draußen wieherte ein ums andere Mal ein einsames Pferd, sich scheinbar mit mir sympathisierend. Vielleicht war der Rappen zu viel geritten worden?

Aber dann kam der Morgen und mit ihm ein liebevoll bereitetes, stärkendes Frühstück. Frohen Mutes verabschiedete ich mich von der lieben Pensionsmutter und radelte los. Verden ließ ich hinter mir, überquerte die Aller und da wurden sie auch schon wahr, meine Befürchtungen: Knieschmerzen!

Aber da half nun nix, da mussten sie durch, die beiden. Der "Deutschen Fachwerkstraße" folgend - die sich freilich ab und zu auch mal als "Deutsche Märchenstraße", "Deutsche Mühlenstraße" und "Deutsche Spargelstraße" verkleidete - stemmte ich mich gegen meinen treuen Freund, den Gegenwind, und schraubte mich Kilometer um Kilometer nach Süden.

Die Radwege waren gewohnt gut und trotz des Windes ging es mit durchaus flotten 18,5 km/h im Schnitt durch sonnengelbe Rapsfelder und malerische Fachwerkdörfer, die mühelos jeden Filmkulissenbauer hätten erbleichen lassen.

Die Sonne knallte unerbittlich danieder und obwohl ich mich gut versorgt hatte, gingen die Wasservorräte bedrohlich schnell zuneige. Und zu allem Überfluss tauchte es nun auf, am Horizont - das drohende dunkle Band vieler Hügel. Berge, um nicht zu sagen. Das Wesergebirge lag vor mir.

Zunächst aber schmeichelte sich die Landschaft ein. Mit Wald. Endlich Wald. Nadelwald mit köstlicher Kühle. Endlich im Schatten zu fahren erfüllte mich mit Freude, so sehr, dass ich die nahenden Anstiege auszuklammern vermochte. Und dann kamen sie - Steigungen, Abfahrten. Und wieder Steigungen. Und wieder Abfahrten.

Den Radweg gab es mittlerweile auch nicht mehr, stattdessen fuhr ich auf einem - recht breiten - Seitenstreifen einer stark befahrenen Bundesstraße. Meine Feinstaubbelastungsbilanz hatte an diesem Tag bestimmt einen neuen Höchststand zu verzeichnen, aber das sollte nicht der einzige Rekord gewesen sein: Immerhin purzelte auch der 1.000te Kilometer auf der Speedmachine irgendwo bei Estorf an der Weser.

Und die Weser war es, der ich beständig folgte. Und endlich, nach 60 Kilometern, schienen es sich auch meine Knie überlegt zu haben und gaben ihr Gemecker auf. Pötzlich war schmerzfreies Fahren angesagt.

In einigen Dörfern trieben lokale Gebräuche zuweilen witzige Blüten - da hangen irgendwann an einem Zaun hunterte dreckige Socken herum. Mich freute es. In Hamburg muss man vor dem Rathaus fegen, wenn man unverheiratet 30 wird. An der Deutschen Fachwerkstraße bekommt man dafür die dreckigen alten Socken des gesamten Dorfes. Auch schön ...

Einige schweißtreibende Anstiege später erreichte ich dann Minden - und kam dabei fast ums Leben.

Ich weiß nicht, wo ich das Schild verpasste, auf dem wahrscheinlich unmissverständlich klar gemacht worden war, dass der nun folgende Straßenabschnitt als Motorstraße vor allem für Radfahrer absolut verboten war, aber das spielte dann auch keine Rolle mehr. Denn unversehens fand ich mich in einem von einem dutzend Meter hohen Betonwänden umgebenen Schlauch aus Asphalt wieder. Der komfortable Seitenstreifen war plötzlich weg, ich musste auf die Fahrbahn, die nun wiederum vom Gegenverkehr abgetrennt war.

Autobahn!

Umkehren? Wie??? Daran war nun nicht mehr zu denken, denn selbst das Schieben entgegengesetzt der Fahrtrichtung wäre lebensgefährlich gewesen. Geisterfußgänger. Nein, so wollte ich nicht enden. Also weiterfahren, irgendwann wird schon eine Ausfahrt kommen, dachte ich mir.

Aber was kam war, dass es noch schlimmer kam. Denn der Betonschlauch wurde ein paar hundert Meter vor mir zu einem Tunnel. Da die Fahrt abschüssig war, nahm ich immer mehr Geschwindigkeit auf. Langsam begannen auch die Autofahrer zu merken, dass hier etwas nicht stimmte, und hupten, wenn sie an mir vorbeidonnerten.

Gerade so konnte ich in einer Nothaltebucht eben selbiges tun und meinen Dynamo anschalten, um mich mit Gottvertrauen in meine funzelige Fahrradlampe in den Autobahntunnel von Minden zu begeben. Im Nachmittagsverkehr.

Und schnell, da Gegenwind fehlte, raste ich durch die Dunkelheit. Rechts neben mir, nur ein paar Zentimeter von meinem Ellenbogen entfernt, schoss schroff der Beton der Tunnelwand vorbei, links, noch beängstigender und zeitweilig auch noch näher, die sich ganz und gar nicht an die 100 km/h haltenden Autos. Wieder und wieder hupten sie, so, als hätte ich selbst nicht bemerkt, in was für eine Scheiße ich mich da hinein manövriert hatte.

Malmend drohten die hinteren Achsen von vorbeipolternden LKWs, wenn mich der Sog erfasste und mich in ihre Richtung zog, dort, wo schnell riesenhaft rotierende Reifen wie ein Mahlwerk krachten.

Mein Herz pochte, als ich verzweifelt versuchte, so weit wie möglich rechts zu bleiben, ohne die Wand zu berühren, dabei noch zu steuern, zu treten und gleichzeitig immer im Rückspiegel den Verkehr zu beobachten.

Endlos schien dieser Alptraumtrip. Endlos. Vielleicht 10 Minuten.

Und dann sah ich es, das buchstäbliche Licht am Ende des Tunnels. Und nahm sogleich die Abfahrt, hinter der sich auch praktisch ein Parkplatz befand, auf dem ich meine Herzfrequenz etwas senken und ein Stoßgebet gen Himmel schicken konnte.

2 Minuten später schossen Polizeisirenen aus dem Tunnel. Ob sie mir galten, werde ich (zum Glück) nie erfahren.

Und da war ich nun. Zwischen zwei riesigen Bergen. Und unten, zwischen ihnen, die Weser. Porta Westfalica, das Tor, ich hatte es unterquert. Grandios dieser Anblick. Beruhigend keineswegs nach dieser Schussfahrt, aber überwältigend.

Nun aber schnell. Die fantastischen Radwege entlang der Weser nutzend, genoss ich eine schnelle Fahrt. Fantastische Panoramen, alle Kilometer änderte sich das Bild. Und bald schon war der Mittelgebirgscharakter von Porta Westfalica gänzlich verschwunden und das gewohnte Bild einer Flusslandschaft an seine Stelle getreten.

In Bad Oyenhausen hatte ich meine 100 km Tageslimit überschritten. Und da merkte ich, dass ich mich mit meiner Planung für diese Etappe vollkommen verkalkuliert hatte. Denn bis Lengerich und in mein Hotel sollten es noch fast 50 km sein!

Aber weiter. Immer weiter! Bünde erreicht, da geht noch was, 115 km heute. Es rollte, und wie. Denn endlich auch mit Rückenwind. Doch dann meldeten sich stumpf schmerzend wieder die Knie zu Wort. Verlangten nach einer Raststatt und heißem Wasser. Nur - es fand sich kein Hotel! Weit und breit keine Pension, kein Fremdenzimmer.

Weiter an der Werre. Mittlerweile war es später Nachmittag und ich hatte Mühe, die Hunderte von Radfahrern entlang des wunderschönen Radwanderweges zu überholen - ein wahrer Radlerstau war das schon.

Bei Bruchmühlen und 125 km war der Tiefpunkt erreicht. Und dann die Rettung in Melle. Der "Bayerische Hof" und zwei sehr freundliche Rezeptionistinnen gaben mir den Schlüssel zu dem geräumigsten Hotelzimmer dieser Tour. Wahrhaft riesige Ausmaße fand ich vor, nachdem ich die vollbeladene Speedmachine wieder die Treppe hochgewuchtet hatte.

Ein Berg Spargel, literweise Franzbranntwein und zwei beruhigende Gläser Alkohol der Lohn dieser in allen Belangen abenteuerlichen Etappe.

Gefahren: 130,28 km in 7 h 10 min und 18,15 km/h Durchschnitt



Den Post des Folgetages bitte rechts aus dem Archiv auswählen ->

Keine Kommentare: