Sowas kommt von sowas, sagt man ja. Und wenn in China ein Sack Reis umfällt, ein Schmetterling pupst oder jemand seine Brille vergisst, dann kann das hier in Europa Wirbelstürme auslösen oder sonstwas anrichten.
Heute hatte das Universum für mich auch so Einiges parat.
Ich beginne den Tag mit relativ luxuriösem Ausschlafen bis halb Neun und stehe auf, um festzustellen, dass ich keine Milch mehr für meinen Morgensenseo habe. Als ich mir meine Toasties auch noch ohne Butter schmieren muss, hätte ich die Zeichen eigentlich erkennen sollen. Tue ich aber nicht - und steige hochmotiviert in mein Liegerad, schieße durch die Stadt und heiße einen Frachterriesen aus Panama willkommen.
Neuer Nepp und Tünnef, damit unser Konsumrausch auch nahtlos weiter gehen kann.
Für mich wird es heute eine politische Tour - und deshalb finde ich den konsumkritischen, antikapitalistischen Start am Hort der Globalisierung - dem Hafen - doch einigermaßen passend.
Heute ist Ketten-re-Aktion, und da will und darf ich nicht fehlen. Wir sagen Nein zur Atomkraft. Vor allem, wenn sie aus veralteten Meilern kommt, wie dem Schrotthaufen Krümmel, der nicht weit von meiner Stadt in Geesthacht vor sich hinbrütet.
Ketten-re-Aktion also: Eine klare Ansage an diese furchtbare Regierung, die am Ausstieg rüttelt (Danke nochmal an alle, die sehenden Auges diese Lügner und Lobbyisten gewählt haben!), eine klare Ansage an die Konzerne und ... ich will einfach dabei sein. Flagge zeigen.
Ich winke dem Pott, der mir - zugegebenermaßen sehr faszinierend - seinen dicken Hintern hindreht, um sich die Süderelbe zum Terminal hinabzuschieben, und beginne meine Tour.
Ich habe vor, nach Brunsbüttel, dem Start der Ketten-re-Aktion zu fahren, dort, wo sie beginnen werden, sich an den Händen zu halten, um eine Menschenkette hinunter durch Itzehoe, Elmshorn, Hamburg bis nach Krümmel zu formen.
Das Wetter ist göttlich - aber wo sind die Menschen? Ich fahre durch menschenleere Elbauen. Wunderschön hier, es riecht nach Frühling, feuchte, klare Seeluft, ein Genuss.
Aber keine Reaktionäre.
Ich fahre durch Blankenese, begegne einem Dutzend Jogger, ein paar Touristen - die meisten werden sich wohl noch am Büffet laben, und wundere mich: Keine einzige gelbe Flagge mit der roten Sonne. Keine Gitarrenmädchen, keine Dreadlocks-Jungs, keine Demonstranten. Nichts. Niemand.
Ist der Protest abgesoffen?
Dafür erfreue ich mich an der Natur. Endlich mal wieder eine Tour, bei der ich so richtig die Seele baumeln lassen kann. Ich hänge mein Grinsen in die Sonne, lasse mich braten, schraube meine Geschwindigkeit nicht allzu hoch - geht ja auch kaum, bei dem Auf und Ab auf Schottersand.
Kaum habe ich das berühmte Wilkommhöft erreicht - Wedel, keine 35 km stehen auf dem Bike-Computer - als es auch schon passiert ist. Der Schwalbe Supreme, mal wieder vorn, gibt auf.
Ich merke es bergab, habe gemütliche 35 km/h drauf, fahre gerade über eine seichte Kreuzung - alles kein Problem - als die Lenkung schwer, dann schwammig und letztlich unlenkbar wird. Platten! Verdammt!
Ich komme mit der allerletzten Luft im Schlauch bis genau vor das Wilkommhöft, gerade wird die panamalesische Fagge gehisst, es ertönt die Nationalhymne des kleinen Staates und dann "Muss I denn, muss I denn zu-um Städele hinaus?"
Ja, würde ich gern - aber nicht so!
Das Loch ist schnell gefunden. Millimeterlange, feine Schiefersplitter stecken im Mantel, der fast 5 mm lang aufgeschlitzt ist. Was keine 1.300 km kanadische Rocky Mountains und auch keine 1.300 km Japan geschafft haben, macht der Elberadwegschotter in wenigen Kilometern. Dumm.
Naja, zum Glück habe ich ...
... habe ich nicht! Verdammt! Gerade heute, warum auch immer, habe ich keinen Wechselschlauch dabei. Also Flicken. Flickzeug, ja, da ist die kleine grüne Schachtel. Die gute alte Vulkanisation, sie wird mir ...
... wird sie nicht! Scheiße! Habe die Reifenhebel, warum auch immer, nicht eingepackt! Was ist nur mit mir los?!? Ich gehe auf eine 200 km-Tour und habe nicht einmal das rudimentärste Werkzeug mit? Und wie will ich das Vorderrad lösen? Schnellspanner gibts seit dem Einbau des SON nicht mehr.
Oh man.
Oh nein!
Ich warte geschlagene 60 Minuten, spreche etwa 15 Radler an, bis ich endlich ein älteres Pärchen finde, die Flickzeug und Reifenhebel dabei haben. Auch die beiden warten schon eine Ewigkeit, erzählen sie mir, mit ihrem Flickzeug. Und zwar auf jemanden, der sich damit auskennt.
"Na sehen Sie," sage ich, "da haben Sie jetzt jemanden, der Ihnen den Reifen flickt und ich jemanden, der mir hilft, meinen zu flicken."
Das Universum hat wieder gewunken.
Ich mache beide Räder startklar, tue meine gute Tat, und fühle mich wieder etwas besser, als sie sich überschwänglich bedankt.
Aber irgendetwas in mir hat die Lust verloren, jetzt noch nach Brunsbüttel zu fahren. Gerade mal 35 von 100 km geschafft - und dann würde auf mich noch der Rückweg warten. Und alles mit mittlerweile zwei geflickten Schläuchen an der Speedmachine. Und ohne Werkzeug. Weiter am Elberadweg - und ab Wedel bis Glückstadt nun gänzlich ohne Zivilisation - das wird mir zu riskant.
Und wieder winkt das Universum. Es sagt mir, dass nicht ich zur Kette muss. Sondern dass die Kette zu mir kommen würde.
Ich wende die Speedmachine. Und fahre, vorsichtig, immer mit einem Blick aufs Vorderrad, langsam meinem Hinweg wieder zurück.
Ich beschließe, mich in die Kette zu stellen.
Kaum bin ich wieder in Hamburg, hupt neben mir der nächste dicke Brummer, Bringer von billigen Flatscreens, Turnschuhen und Pokemons. Wieder ein fetter Brocken. Wow, denke ich - und erinnere mich daran, als noch vor wenigen Monaten im Hafen wochenlang kein einziges dieser Riesenschiffe festmachte.
Ich besuche Bernd im Liegeradstudio, bezahle noch eine offene Rechnung.
Und auch das kommt mir wie ein Wink des Universums vor - tilge erst deine Schulden, mein Lieber, dann sei auch dir Freiheit gegönnt. Bernds Freude ob der Abbuchung scheint das zu bestätigen.
Und dann suche ich die Kette.
In Altona treffe ich dann die ersten kleinen Grüppchen. Polizei und Rundumleuchten sperren zunächst kleine Nebenstraßen. Na, wollt ihr etwa den Protest von den Prachtboulevards der Bourgeoisie fernhalten?
Nein, wollen sie nicht.
Können sie auch nicht.
Die ersten Kettenabschnitte von mehr als einhundert Metern Länge fahre ich ab. Man grinst und freut sich, einige junge Mädchen rufen mir: "Absteigen und Einreihen!" hinterher, ich winke ihnen und fahre trotzdem weiter.
Weiter unten am Hafen wird die Kette dann vollständiger. Reaggae-Musik, Bierkästen und ganze Grillstationen haben sich die jungen Leute mitgebracht. Ich sehe viele, viele Jugendliche, aber auch Familien, Ältere und ganz Alte. Wow, denke ich mir - hier ist ganz Hamburg auf den Beinen!
Und richtig so: Immerhin müssen alle ein Zeichen setzen gegen die Profitgier der Energiekonzerne und den politischen Supergau, den die schwarz-gelbe Regierung da im Auftrag der Konzerne veranstaltet.
Es herrscht Anarchie auf der Straße. Keine Autos, nichts und niemand. Leute sitzen auf den Mittelstreifen. Fahrtspuren werden wie in England benutzt, ich spiele mit einem Polizeimotorrad James Dean-Szenen aus seinen Rabaukenfilmen.
Endlich gibts dann auch meine Gitarrenmädchen, die Dreadlock-Jungs und all diese verrückten Abiturienten, die noch nicht durch Vorgaben des Arbeitsmarktes gestreamlined sind, vernünftige Frisuren haben und ihr Bier noch aus der Flasche trinken.
Es ist warm, es ist angenehm. Und die Stimmung hat etwas Vibrierendes, so zwischen Volksfest, Festival, Demo und Barrack-Obama-ist-gewählt-wir-sind-Pabst-und-Weltmeister. Hamburg, so gefällst Du mir!
Ich fahre über den Rödingsmarkt in Richtung Innenstadt - was am Rathaus los ist, will ich mir ansehen. An einem Tag wie diesem ist an sich schon mit Touristenoverkill zu rechnen - aber heute ist der Ausnahmezustand perfekt: Die Mönckebergstraße ist eine einzige Laufmeile. Die Kette hat hier keine Löcher mehr, sie haben hier sogar gelbe Atomfässer mitgebracht, Jugendgruppen musizieren, ein Straßentheater gibt den GAU.
Ich stelle mir vor, wie es sein muss, in einer Welt ohne Autos zu leben, und diese tolle Atmosphäre jeden Tag zu erleben - breite Straßen, auf denen Fußgänger und Radfahrer die Vorfahrt haben, super Flüsterasphalt, auf dem keine Porsche Cayenne sondern Schwalbes (meinetwegen auch die geflickten) rollen.
Utopia?
Kopenhagen!
Zum Bahnhof hin wird es dann wieder lichter. Aber auch hier stehen sie. Auch hier grinsen sie mich an, winken sie und machen Fotos. Ich stelle mir vor, wie beeindruckend diese protestierende Menschenschlange von oben aussehen muss, von da oben, wo unablässig ein Polizeihubschrauber kreist. Oder ist das Google?
Ich hoffe, dass sie auch in Elmshorn stehen. Dass sie in Brunsbüttel stehen. In Geesthacht. Und ich wünsche mir, dass die Vattenfalls und E-ONs dieser Welt das hier sehen könnten, diese Gesichter, dieses Lächeln, diese kleinen Kinder, die hier mit den gelben Anti-Atomkraft-Luftballons spielen. Und ich wünsche mir - und uns allen - dass sie sich überlegen, ob es das alles wert ist. Ob die Milliarden Euro es wert sind, das alles aufs Spiel zu setzen.
Und ich fürchte, ich kenne die Antwort.
Zuhause in Niendorf gönne ich mir noch ein Ki-Ba-Mel-Eis und schlecke mir den kühlen Frost in meinen schwitzenden Schädel. Da stehe ich, ein kleiner Junge begutachtet meine Speedmachine, ich blinzele in die Sonne und verstehe, was mir das Universum heute versucht hat zu erklären.
Morgen werde ich viel entspannter sein. Morgen werde ich vorbereitet sein. Morgen habe ich alles erledigt - und deshalb werde ich meine Tour morgen auch ohne Probleme fahren können.
Ohne Platten.
Ohne Schulden.
Und ohne Gewissensbisse - denn heute hat das Universum mich an die Stelle geführt, an der ich gebraucht worden bin. An einer Stelle, wo ich durch meine Anwesenheit eine Stimme abgegeben habe.
Und morgen dann wieder - Sport frei!
Gefahren: 73,5 km - mit Muskelkraft statt Atomkraft.
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