31 Oktober 2009

Orgy in Red.

... naja, eigentlich "Orgy in Orange", aber Chris de Burghs Klassiker passt irgendwie besser zur melancholischen Grundstimmung, die sich in diese wahre Herbstorgie heute gemischt hat: Klares, kaltes Wetter, eine Sonne, die die ganze Stadt mit Licht aus Gold überschüttet hat. Und ich mitten drin.

Das Wetter ist so schön, dass ich noch gestern Abend nach dem Wetterbericht der Tagesschau beschließe, mein anstehendes 10-Stunden-Training auf nächstes Wochenende zu verschieben, um diesen Supertag heute für eine zünftige Abschiedsrunde in Hamburg zu nutzen.

Noch einmal alles sehen, die Heide, den Hafen, die Stadt, die Schiffe und ... einfach Sonne tanken. Gesagt - getan. Und was soll ich sagen? Es war einfach herrlich!

Außen um die Alster herum, es war Stimmung wie im Sommer, unzähige Jollen und Boote tümmeln sich auf Hamburgs Segelrevier und Jogger, Touris und Hamburger gleichermaßen verursachen Staus auf den idyllischen Parkwegen - die Straßen allerdings kommen mir leerer vor als sonst. Sommerstimmung.

Würden sie nicht alle Winterklamotten anhaben und ich nicht selbst unter meiner langen Jeantex-Kombi die gute Woll-Unterwäsche tragen, man könnte das hier für Juli halten.

Die Fontäne der Binnenalster bespritzt den Himmel, der wiederum in makellosem Blau glänzt und die perfekte Bühne abgibt für eine Sonne, die zwar nicht sonderlich wärmend, aber doch verschwenderisch großzügig ihre Strahlen über die Stadt schmeißt.

Der Sandstein des Rathauses schimmert wie Platin, die Fassaden der schicken Einkaufsmeilen funkeln wie Brillanten, selbst profaner Asphalt changiert verführerisch. Es macht Spaß, zu treten, obschon meine Knie schmerzen, schon nach wenigen Kilometern.

Steckt da etwa eine harte Saison in ihnen? Vielleicht sollte ich ihnen erst einmal eine längere Regenerationsphase gönnen? Aber ... nicht heute.

Unser Michel, stolz, über 100 Meter hoch und - so habe ich gestern noch gehört - endlich nach 26 Jahren ununterbrochener Sanierung das erste mal ohne Gerüst. Ich stehe eine Weile da, liege in der Sonne, atme mit Dampf. Ein perfekter Tag.

Klar, dass ich zum Hafen muss.

Ich fliege an den Landungsbrücken vorbei, fege über den Fischmarkt, wo sich schon erste Händler auf morgen früh vorbereiten, vorbei an Blohm & Voss, wo ein riesiger Frachter der Afrika-Linien im Trockendock liegt und hechte die Treppenstufen zum Dockland-Haus hinauf.

Denn hier oben hat man den besten Ausblick.

Herrlich, diese Stimmung. Ich muss mich revidieren - nein, nein, das ist nicht wie im Juli. Diese Stimmung bekommt nur der Herbst hin. Eine unverwechselbare Patina, die auf allem liegt, dieses goldene, der Schimmer, eine leicht traurige, bedrückende Stimmung, ein Grundrauschen wie ein Seufzer - die Erkenntnis, dass das der vielleicht letzte Tag des Jahres mit Plusgraden sein könnte.

Ich atme durch, blicke hinüber zur Köhlbrandtbrücke, sehe, wie die Fähren immer neue Touris an den Piers ausspucken, andere einsaugen. Es ist komisch, denke ich, in ein paar wenigen Wochen, Tagen vielleicht, wird hier Schnee liegen, und wenn kein Schnee, dann doch sicherlich der eisige Hauch eines unerbittlichen Winters.

Und dann, so weiß ich, wird es kein Liegerad-Spaß mehr geben. Zumindest nicht hier, hier draußen an der Luft.

Ich schieße weiter Richtung Elbstrand, ein eisiger, straffer Wind treibt mich an, genauso, wie er den Skipper eines Bootes zum Kreuzen vorwärts schiebt. Er in den Hafen - ich kehre Hamburg erst einmal den Rücken.

Kämpfe mich die Blankeneser Berge hinauf, schwitze in der Kälte, heize heiß durch Alleen aus goldenen Bäumen. Rot, Orange, reich, satt und bunt blitzt es neben mir, wenn ich die Bäume abfahre, eine Parade aus Ocker, eine Orgie, eine wahre Orgie des Herbstes.

Es duftet würzig, unter meinem Liegerad knistert feuchtes Laub, wenn ich auf dem feuerfarbigen Teppich hinabschieße auf der anderen Seite, hinab nach Wedel. Dort drehe ich wieder in den Wind. Habe kalten Rotz am Kinn, ständig tränen die Augen. Heiße Brust vorn, kalter Schweiß hinten. Radfahren, wie es nur im Herbst möglich ist. Ein Wechselbad, kalt-heiß, nach Kneipp.

Nach zweieinhalb Stunden komme ich daheim an. Es war nicht meine schnellste - aber bestimmt eine der emotionalsten Trainingsrunden, denke ich mir, als ich der Speedmachine im Wohnzimmer den hinteren Schnellspanner entnehme und das Trainings-Stück einsetze, mit dem ich sie in die Rolle einspannen kann.

Das heute, wird mir klar, waren die letzten Kilometer auf meinem Liegerad in 2009.


Gefahren: 60 km in 2:33 Stunden mit gemütlichem 23er Schnitt.


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