26 Mai 2008

HH - Insel Pellworm Tag 2 "Mordgedanken vs. Zen-Meisterschaft"

Es war wohl der Schlaf des Zufriedenen - oder doch das Pulsieren des Leuchtturms, das mich in Trance wiegte? Es kann auch am stetigen, frischen Wind gelegen haben, der wenig auf- oder anschwellend immer gleichförmig wehte. Es war schön, um es kurz zu machen, eine Nacht, so ruhig und vollkommen wie lange nicht mehr.

Ich ohrfeigte mich innerlich, hatte ich es doch versäumt, einen womöglich überwältigend klaren Sternenhimmel zu betrachten.

Und so wachte ich um 6:30 Uhr auf - Time set: 7:45 Uhr. Und dieses Mal, das hatte ich verifiziert, würde keine unerwartet nicht im Internet eingetragene Fähre zur Stelle sein. Leider bedeutete dies aber auch, dass ich ohne Frühstück habe die Pension verlassen müssen. Und dabei ist doch das Frühstück die wichtigste Malzeit des Tages, zumal 150 km vor mir lagen.

Ich schleppte das Rad über den Deich, die Schafe blökten Tschüs.

Die Sonne war längst schon aufgestiegen, die Temperatur leicht über 10 Grad. Nicht ganz so chillig wie noch am Tag zuvor. Ich fuhr direkt am Strand - es war wieder Ebbe - zur Fähre. Geblendet von einer dieses Mal in reinstem Platinweiß strahlenden Sonne, die sich myriardenfach im noch wasserfeuchten Ebbe-Boden der Nordsee widerspiegelte, radelte ich ruhig über den 1 km langen Damm hinaus zum Fähranleger. Und bekam dabei schon einen Vorgeschmack auf das, was mir auf dieser Rückfahrt blühen sollte.

Das war kein Gegenwind.
Das war stetiges Entgegenwerfen von Luftmassen.
Das waren wütende Faustschläge aus Sauerstoff.

Doch zunächst rollte ich wieder auf die Fähre, parkte meine Speedmachine an gewohntem Platz und fand mich unter Deck in einer Schlange am Schiffskiosk wieder. Und was für eine tolle Sache: Da konnte man zum Beispiel Nutellabrötchen ordern. Was die Familie vor mir auch tat. Ein beleibter Fährangestellter in kurzem Uniformhemd nahm ruhig und gelassen die Bestellung an, nickte und drehte sich um. In aller Seelenruhe schnitt er ein Brötchen auf, holte eine Dose Lätta aus dem Kühlschrank und bestrich die Häften mit einer dünnen Schicht Margarine. Dann drehte er das Nutellaglas auf, angelte eine ordentliche Portion Schokocreme mit dem Messer hervor und verteilte diese auf dem Gebäck. Alles auf einem weißen Tellerchen platziert, 1,50 Euro wechselten den Besitzer und ich war an der Reihe.
Ein Kaffee musste es sein.
Schön heiß und schön süß.

Wieder an Deck verwickelten mich sogleich zwei ältere Herren in ein Gespräch. Der Eine, aus Sachsen, erzählte mir von seinen Erfahrungen mit einem Fast-Liegerad und von seinen Touren, als er noch jung war. Schnell gesellte sich ein weiter Mann hinzu.

Er nannte sich selbst den "Bäcker von Pellworm" - etwa 2,50 m war der Mann groß, wettergezeichnet, lustig und offen. Durchtrainiert war er, voller Schnellkraft und Energie. Und wie bei allen Pellwormern fiel mir auch bei ihm diese Vitalität, diese freundliche Offenheit für Neues und Fremdes auf.

Auch er war ein Radbegeisterter, war er doch unterwegs zu einer Tour rund um Husum, die von einer Holsteiner Zeitung veranstaltet wurde.

Der Mann war 70 Jahre alt.

Wir verabschiedeten uns in Nordstrand, ich rollte von Bord und trat sie an, die Tour zurück. Brutal warf mir ein Tief seine Luftmassen entgegen. Wo ich gestern noch ohne Anstrengung locker mit 32 km/h über den Deich geschossen bin, hatte ich heute Mühe und Not, überhaupt 15 km/h zu halten. Anstrengend war es und schon nach 15 km schmerzten Gelenke, Waden und Knie.

Eine Stunde später erreichte ich endlich Husum, traf leider das Nordenmädchen nicht an, dafür aber war Flut. Und wo gestern noch grauer Schlick träge den leeren Hafen verschlammte, schwabbte heute fröhliches Brackwasser schillernd zwischen den bunten Fischerbooten.

Eine Böe holte mich meist aus allzu kontemplativen Gedanken in die Gegenwart, verlangte doch jeder Lufstoß zuweilen energisches Gegenlenken und Ausbalancieren. In Theodor Storms Friedrichstadt, in der der "Schimmelreiter" entstand, vermochte ich demnach auch nur kurz den Geranienkästenpflegern einen Seitenblick zu schenken und steuerte verbissen gegen die stetigen Windstrom an.

Dann kam kurzzeitige Erlösung: Die Straßenführung sollte mich über knapp 20 km über einen großen Schlenker in Windrichtung fahren lassen. Und kurz konnte ich sie so genießen - eine Fahrt mit 30 km/h Schnitt und ohne große Anstrengung. Ach, wenn es doch immer so sein könnte ...

In Heide war nichts besonderes mehr.
Itzehoe - ich will nach Hause.

Mittlerweile war die Wut in mir hochgestiegen. Wie konnte das sein? Gutes Wetter war angesagt - wie passt so ein Sturm dazu? Ich schrie meine Wut in den Wind, brüllte gegen seine Kraft an. Und fast hatte ich das Gefühl, dass mit jeder Beleidigung, die ich in die Heide brüllte, der Wettergott einen Knoten draufpackte. Nur um zu sehen, wann mir die obszönen Schimpfworte würden ausgehen. Aber ich hatte da noch Einige auf Lager.

Aber der Wettergott leider auch noch einige Knoten Reserve.

Irgendwann ergab ich mich allem. Was half es auch? Mit stoischer, fast mönchsgleicher Ruhe betete ich mir immer das gleiche Mantra vor: Dafür hattest Du gestern fast ausschließlich Rückenwind. Den Preis zahlst Du heute.

Mit anderen Worten: Man kann nicht nur die Abfahrten genießen - denn den Berg zu erklimmen gehört dazu.

Wenn ich einen Zen-Grad erwarb, dann auf dieser Rückfahrt.

Ich traf einen freundlich winkenden Liegeradfahrer, der mit dem Wind an mir vorbeischoss. Ein amerikanischer Langlieger, über 2,50 m lang und ein wenig tiefer als meine Speedmachine. Gern häte ich da mal Probe gelegen.
Wenig später, in einem Unterführungstunnel, ein großes "Hallo", als ich einem Liegerad-Tandem begegnete.
Die Gruppe Feuerwehrleute, die mit Bollerwagen Lieder singend nach einer Übung offenbar schon sehr betüdelt über die Nord-Ostsee-Hochbrücke steuerte, überholte ich genauso spielend, wie eine schwer beladene Velo-Touristin, die sich mit mindestens 50 kg Zusatzgewicht auf Vorder- und Hinterrad ebenso wie ich im Mahlstrohm aus O2 versuchte, vorwärts zu bewegen.
An einer Tanke genehmigte ich mir ein Magnum, manches mal wusste ich nicht, ob ich lieber noch Sibirien oder doch nach England fahren sollte. Aber Hamburg, mein warmes Hamburg mit Wohnung, eigenem weichen Bett, das war das Ziel.

Heimat, geliebte Heimat, als ich in Pinneberg einrollte und auf den Bushaltestellenschildern endlich der Hamburger Verkehrsverbund stand. Hamburg ... nun haste mir wieder!
Rellingen folgte.
Über die Autobahn.
Vorbei an den grünen Wiesen.
Niendorf, mein Niendorf!

Ich fiel aus dem Rad. Pellte mich aus verschwitzten Klamotten, die nach Wut rochen und kroch in einer heiße Wanne, wo ich den Staub einer anstrengenden Etappe abwusch, meine pulsierenden Waden massierte und mich hinüberträumte, zurück auf den grünen, weichen Deich, zu den weißen, weichen Schafen.

Zurück auf die tolle kleine Insel mit dem großen, großen Herz.

Gefahren: 146,33 km in 7 h 30 min und 19,5 km/h Schnitt.
Tour gesamt: 298,33 km in 14 h 50 min

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