04 April 2010

The Windstopper

"Windstopper" steht da stolz wie Oskar auf dem Kragen von Klaus´ Jacke - aber so richtig geholfen hat das Zauberzeichen uns nicht. Sowohl, was die eigentliche Winddichtheit des Kleidungsstückes angeht, als auch ... naja, sagen wir, ich hätte mir magische Kräfte angesichts der Großwetterlage erhofft. Aber den Wind stoppen, das konnte es nicht.

Was als lockere 4-Tages Ostertour von Hamburg nach Berlin geplant war - 450 km zum Einrollen und Einstimmen auf eine spannende Liegeradsaison 2010 - endet recht kläglich. Aber ich sollte von vorn beginnen ...

Es ist Karfreitag, 6 Uhr, und ich frage mich mal wieder, was es ist, das mich an einem freien Tag nach einer harten Woche in der Agentur statt des verdienten Rumlümmelns und Ausschlafens im Bett aufstehen lässt. Ah, klar: Natur, frische Luft, Geschwindigkeit - der Geruch von Freiheit, mein tolles Trikot, die sexy Radhose, eine tiefe Speedmachine und der Jieper nach Kilometern im Draußen, auf dem Asphalt.

Wir sind in Büchen verabredet, etwa 60 km von meiner Haustür entfernt. Klaus, der mit IC anreist, will sich den Stadtverkehr Hamburgs ersparen, ich mich auch, also steige ich in den Regional-Express nach Rostock, der - was anzunehmen war - proppevoll ist. Zumindest, was die Menschenabteile angeht.

Das Radabteil habe ich für mich allein. Nanu? Wo sind denn all die Osterradler? Keine Baumarkt-Rallaye? Keine Vati-bringt-dem-Justin-am-Wochenende-mal-das-Radfahren-bei? Nein? Ah, die haben wohl alle dem Wetterbericht geglaubt: Denn der verspricht für heute noch gutes Wetter, morgen soll es dann nur regnen, Sonntag dieser dann in Schauer übergehen, die sich am Montag weitgehend verziehen sollen. Also kein Radtourenwetter. Zumindest nicht mit Baumarkträdern. Einen Speedmaschinisten kann das nicht abturnen. Okay, grinse ich, dann also mehr Platz für mich.

Das haben sich dann wohl auch die Fahrgäste gedacht, und ehe ich es mich versehe, sitze ich eingezwängt zwischen Schönes Wochenende-Jugendlichen und Familien ohne Auto. Ein dickes Mädchen, das sich mit seiner dicken Mutti die Ohrhörer teilt, starrt mich die Fahrt über verliebt an - Lady Gaga johlt hörbar durchs Abteil. Ich lenke mich ab, indem ich die 40 Minuten Fahrtzeit nach Büchen zähle.

Dort auf dem Bahnhof erwacht - es ist 9 Uhr - ein Jugendlicher auf einer Wartehallenbank, völlig betrunken, und fragt eine Dame, wo er hier denn um Himmels Willen sei. "Büchen", antwortet die. "Wozurhölleistdenn ... DAS???" - desorientiert, Filmriss: Junge, hör mit dem Flatrategesaufe auf!

Eine halbe Stunde später steigt Klaus völlig genervt aus seinem überfüllten IC aus, der zweitausend Urlaubshungrige nach Westerland karrt. Wir machen das Tourenstartfoto - es ist bitterkalt, aber an einem makellosen Himmel steht eine gut gelaunte Sonne.

Wir lassen es langsam angehen: Mir hat auf den 13 km heute morgen zum Hamburger Hauptbahnhof das rechte Knie Probleme gemacht. Klaus meint, er sei auch noch nicht voll auf dem Posten. Und so radeln wir uns bei gemütlichen 22 km/h ein und fahren zunächst entlang einer Kanals auf Sandwegen.

Die Fahrt geht gut, der bläst allerdings schon sehr hart von Südosten her in unsere Seiten - ich ahne Schlimmeres. Tatsächlich ist es so, wie die Wetterfrösche angesagt hatten. Aber wird es wirklich regnen?

Die Sandwege nerven etwas, Klaus echauffiert sich und so biegen wir schnell auf asphaltierte Straßen ab. Ich selbst fand das niedrige Starttempo jedoch ganz angenehm: Mein Knie macht mir Probleme. Ich lasse es lieber langsam angehen.

Aber richtig schnell können wir sowieso nicht werden. Kurz hinter der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern wird es Mittag, die Sonne steht hoch, der Himmel tut wie Sommer, aber sobald wir absteigen, unsere Körper keine Wärme mehr produzieren, merken wir, dass es alles andere als sommerlich ist.

Frisch ist es. Ach, kalt, kann man das noch nennen: 12 Grad sagt der Bike-Computer, aber gefühlt liegen wir locker ein paar Grad darunter.

Klaus nutzt eine Pinkelpause, um sich - liegend auf dem Gehweg eines Geisterdorfes namens Groß Molzahn - zu stretchen.

Ich frage mich derweil, wer hier wohl wohnen mag. Und warum? Auf der etwa 20 Sekunden dauernden Fahrt durch das Dorf, haben wir schon alles gesehen, was es herzugeben scheint: Eine Freiwillige Feuerwehr, einen Einkaufsladen (pleite), eine Kirche (leer) und eine Bushaltestelle. Und das hier war schon GROSS Molzahn.
Klein Molzahn ... ich will mir das gar nicht ausmalen.

Wilder Osten. Bauern ohne Arbeit - Stillegungsprämien sei Dank. Ein Landstrich, entvölkert durch Arbeitslosigkeit. Verfallen wegen Desinteresse. Befriedet mit Sternburg Export, ruhig gestellt mit RTL 2.

Und in 10 Jahren ein riesiges Urwaldgebiet.

Ich erweise mich mal wieder als Honk - gegen 13 Uhr merke ich dann endlich, dass ich absolut nichts zu Essen und mit 0,7 Litern auch viel zu wenig Trinkbares mitgenommen habe. An einer Aral zum Ortseingang Gadebusch verschlingen wir zunächst eine zünftige Tankstellenbockwurst, um uns danach einen Kaffee (hier "Kaffe" ausgesprochen) mit zwei Donuts einzuverleiben.

Die Glykogenspeicher sollten damit erst einmal aufgefüllt sein.

Unter den Augen der anwesenden GTI- und Motorradprolls geht es weiter. Der Wind peitscht uns, wir leiden. Klaus klagt zunehmend von einem Kratzen im Hals - mir geht es auch nicht besser. Es ist mittlerweile jede 10te Kurbelumdrehung, die mir einen stechenden Schmerz vom Knie ausgehend die Wirbelsäule hinaufjagt.

Wir nähern uns endlich Schwerin. Für mich - im Stillen - steht fest, dass hier die Etappe enden wird. Ich sage aber noch nichts. Angekommen. Schloss Schwerin. Räder abstellen. Siegfoto machen. Aber nach Sieg schmeckt das hier heute nicht: Gerade einmal 100 km stehen auf meinem Bike-Computer.

Halb Schwerin scheint auf den Beinen zu sein. Während sich Klaus wieder stretcht - diesmal auf dem heiligen Rasen des Schlosses, das gleichzeitig auch der Landtag dieses Bundeslandes ist - mache ich ein paar Fotos.

Unsere Räder ziehen nicht nur neugierige Blicke der Spaziergänger auf sich.

Ein Beamter, anscheinend alarmiert durch die überall am Schloss mehr oder weniger denkmaltechnisch unbedenklich angebrachten Überwachungskameras, ermahnt uns, uns vom Rasen zu entfernen.

"Ich komme ja auch nicht zu Ihnen nach Hause und lege mich in Ihren Garten!", sagt er.
"Aber das ist doch ein Haus des Volkes - also von uns bezahlt?!", kontert Klaus.

Doch die Steuerzahlernummer prallt am proper Beamtenbauch des Polizisten nur so ab. Wenn jetzt ein Abgeordneter käme, dieser müsse ja förmlich um unsere abgestellten Räder herumkreiseln, die hier den Eingang versperren würden. Nein, das gehe nun gar nicht.

"Abgeordnete? An Ostern?" - Klaus ist wohl in Streitlaune.
Wir gehen dann mal lieber.

Die Hotelsituation scheint online wenig befriedigend zu sein, also quartieren wir uns nach einigen entspannten, aber nervigen, Kilometern durch die Stadt im InterCityHotel der Stadt Schwerin ein.

Ein Plattenbau mit riesenhaftem Glasvorbau grüßt uns. Stasibunker meets Wintergartenwessi. Irgendwie sollte hier zusammenwachsen, was architektonisch nun aber wirklich nicht zusammen gehört.
70 Euro kostet uns jeden sein Einzelzimmer. Inklusive eines Frühstücksbüffets von 12,50 Euro - na, auf das bin ich aber mal gespannt!

Die Zimmer erweisen sich als überraschend geräumig, sauber und gar nicht so abgeschmackt eingerichtet, wie der Bau von Außen vermuten lässt.

Wir entkleiden uns, stürmen die Duschen und dampfen uns die Kälte aus den Gliedern, brühen die Enttäuschung ob dieser schmählichen Etappe aus den Knochen, tauen auf, erwachen und kleiden uns in Zivil.

Eine Stunde geben wir uns Zeit. Denn uns beiden brennt die Zunge nach Fleisch. Nach Protein. Nach Kraftessen. Heute, so müssen wir uns nicht einmal besprechen, heute essen wir uns das an, was uns die Zeit auf dem Rad über gefehlt hat. Heute stopfen wir uns voll mit Nährstoffen, mit denen wir morgen den Wind besiegen werden.

Ich genieße noch einmal den Blick der Stadt in der untergehenden Sonne, dann ziehe ich mir die Jacke an. Los gehts. Ich brauche ein Steak. Ein Männersteak!

Wir finden viel, in der Innenstadt: Subway, Deichmann, Nanu-Nana, Schlecker, Rossmann, Pimkie (und Orsay natürlich), vier oder fünf Banken (davon 3 Sparkassen auf 500 Meter Fußweg), wieder ein Subway, da, ein Orsay (und ein Pimkie) - aber kein einziges Restaurant.

Naja, zumindest keines, in das wir hineingehen könnten, ohne Angst zu haben, dass uns eine Horde Böhse Onkelz-Fans (neeeeein, keine Rechten!) anstarrt.

Bis, tja, bis wir in einer versteckten Seitengasse das Brinkama´s finden.

Brinkman´s?
Brinkmannsens?
Nee, Brinkama´s.

Ein Italiener. Laut Auskunft der eigenen Internetseite eines der besten 250 italienischen Restaurants deutschlandweit. Na siehste. Und rein da.

Und dann bekommen wir unser Steak. 250 Gramm Rind, meins blutig, Klaus medium. Und außer, dass meine Sour Creme nach Caipirinha schmeckt (da sind Zitronenraspel drin?!?) und Klaus nicht versteht, warum die Röstkartoffeln mit einer Art Tomatensauce kommen, sind wir sehr angetan. Das Bier tut das seine - und ich verliebe mich in die Kellnerin, die ohne Probleme die (jüngere und süßere) Schwester von Heike Makatsch sein könnte.

Da ich mich nicht traue, sie anzusprechen, klaue ich mir das Pic von der Website des Restaurants. Wir taufen sie "Jenny", finden uns geradewegs in der Pubertät wieder, zwei Ritter der Landstraße, wie wir da sitzen, auf unseren Steak-Pirinhas kauen und Jenny im einsetzenden Bierrausch sehnsuchtsvoll anhimmeln.

Ein herrlicher Ausklang eines herrlichen Abends.

Ich lande gegen 22 Uhr im Bett. Viel zu spät für eine Radtour. Aber die ging ja heute auch schon viel zu spät los. Und endete viel zu früh. Passt also.

Und so träume ich mich zwischen den immer wieder unten vom Bahnhof heraufziehenden Ansagen mit vollem Mascarpone-Magen hinüber ins Morgen.

Hinüber, hinüber, an das 12,50 €-Büffet ...

Und das stürme ich denn dann auch am nächsten Tag - nicht, ohne zuvor voller Angst und Scheu die Gardinen beiseite gezogen zu haben. Für heute ist Regen angesagt, der "im Laufe des Tages in Schauer übergeht". Ah, super Aussichten.

Ich fege die Stoffe beiseite: Bestes Wetter. Blauer Himmel. Die liebe Sonne lacht, kitzelt meine Nase und ruft zu mir herunter: "Und nun stürme das Büffet!"
Und die liebe Sonne, die sollte man nicht enttäuschen.

Auch Klaus gesellt sich zu mir. Wir sitzen im Wintergarten-Ungeheuer und lassen uns zunächst den erstaunlich guten Kaffee schmecken. Hotel-Großküchenfilterkaffee nach systemgastronomischer Brühtradition aufgesetzt wird meiner Erfahrung nach eigentlich nur von einer noch schlechteren Brühkunst übertroffen: Nordamerikanische Plörre.

Aber das, was sie hier im Schweriner InterCity servieren - alle Achtung! So schmeckt, wie ich damals nach der Wende mir die Krönung vorgestellt habe. Ein Traum!

Das Büffett ist reichhaltig und frisch, positiv fällt ein handgemachter Fruchtsalat auf, in dem exotische Dosenfrüchte nur eine Nebenrolle spielen. Und so stärken wir uns, der Schock kommt dann gleich.

Ich sitze unten in der Lobby, vertreibe mir die Zeit mit den neuesten Twitter-Meldungen und warte auf Klaus, der von einer Verschlechterung seines Halses berichtet.

Kurz darauf stehen wir vor dem Hotel - mit uns reist eine Gruppe Mid-50er Schweden im Riesenreisebus ab - und wir sehnen uns angesichts der beißenden Kälte, eines scharfen Südwinds und Nebelschwaden, die bei jedem Atemstoß vor den Mündern hängen, zu ihnen in den bequemen Neoplan-Reisebus.

In der nächsten Apotheke überrede ich Klaus zum Kauf von neo-angin Halstabletten (zuckerfrei, wir wollen ja keine Karies kriegen) und schon treten wir rein - Adieu Schwerin, es war sehr schön. Und in Gedanken winke ich Jenny ... diese großen Kulleraugen, diese rauchige, freche Stimme ...
Und dann bekommen wir eine gescheuert.
Der Wind haut uns eine in die Fresse.
Kickt uns in den Magen.
Poliert uns die Nase.

Böen zerren an den Rädern, es schlackert in den Ohren, wie sonst nur auf Abfahrten jenseits der 60 km/h. Geschwindigkeiten, von denen wir jetzt nur noch träumen können - wenn es hoch kommt, steht da eine 24 auf dem Display vor mir. Meist sind es 21, 22 km/h - und allzu oft gar nur enttäuschende 18 km/h. Der Wind hat uns. Kommt von schräg rechts. Je nachdem, wie die Strecke verläuft, muss ich mich förmlich in den konstanten Windschub legen, fahre teilweise mit einigen Grad Schräglage, um einigermaßen meinen Kurs halten zu können.

Verbissen klammern wir uns an die Lenker, zerren und treten in die Pedale, brennender Hass treibt uns voran. Und mehr als einmal fluche ich mir die Seele aus dem Leib. Doch alles Anschreien nützt nichts - diese Luftmassen walzen einfach über uns hinweg.

Irgendwann sehe ich es blitzern. Weiß. Rein. Eine Fata Morgana? Drehe ich jetzt durch? Gerade haben wir den Hellberg bezwungen - eine Stelle, die ich von zwei früheren Reisen nach Rostock kenne. Knappe 600 Meter geht es mit 12 % bergan. Ich rufe es Klaus zu, der meint anfangs noch "Ach, das sieht doch ganz harmlos aus?!".

Einhundert Meter später kurbelt auch er auf dem kleinsten Blatt im kleinsten Gang.

Also blitzt es Weiß, Strahleweiß, da vor uns. Nicht weit weg.
Da muss ich hin! Ich reiße mein Rad herum, Klaus schüttelt ungläubig den Kopf - die Strecke verlassen für DAS?

Und dann stehen wir da, wie Reinhold Messner auf dem K2, wie zwei Bezwinger eines Achttausenders, Abenteurer auf dem Gipfel, Sieger einer Expediton. Wir posieren wie Veteranen, wie Verrückte, die den Heiligen Gral gefunden haben.

Aber was ist es?

Ich taufe es den Powergel-Berg.

Reines Kraftpulver. Tonnen davon. Geblendet, Augen verblitzt, Sonnenbrillen nutzlos: Wir sehnen uns nach dem, was wir gerade nicht haben. Wie Jungs im Spielkasten feixen wir, träumen und spinnen - was, wenn das hier wirklich reines Power-Pulver wäre?

Klaus schnappt sich einen Brocken.
Ich versuche dramatische Fotografie.

Wir haben eine Macke. Aber es tut mal gut nach dieser Schufterei. Befreiendes Lachen, jugendliches Herumtoben. Wir wissen beide nur zu gut: In ein paar Minuten geht es wieder auf die Piste. In ein paar Minuten: Klaus und seine schleichend sich verschlimmernde Erkältung und ich, ich habe eine Patella, die sich anfühlt, als hänge sie nur noch an einem lächerlich schwachen, kleinen, dünnen Sehnenstückchen.

Na herrlich.

Mecklenburgs Himmel gaukelt Romantik vor.

Während wir unten auf der Straße kaum voran kommen. Es ist leicht hügelig, kleine Steigungen, manche gar giftig und bissig wie räudige Köter mit Heißhunger. Ich hänge wie ein Schluck Wasser im Sitz meiner Speedmachine: Wenn Klaus vorne fährt, mir spärlichen Windschatten geht, fahre ich bis auf wenige Zentimeter an ihn heran - und dann, zwei, drei Umdrehungen aussetzen mit Treten. Erholung für mein rechtes Knie. Ich könnte schreien, tue es aber nicht. Nein, Aufgeben ist nichts für mich. Nicht heute.

Und dann, manchmal, dann lässt sich Klaus nach hinten fallen. Dann muss ich ran. Setze mich vor ihn, klammere meinen Tiller-Lenker fest, scheiße auf die Schmerzen und trete rein. Ziehe ihn mit, versuche, fünf, sechs, sieben Kilometer Windschatten für ihn zu machen. Bis er wieder dran ist.

Dass das Quatsch ist, ist mir klar: Der Wind kommt von schräg rechts, nicht direkt von vorn. Der Windschatten, den wir hier für einander produzieren, ist minimal. Aber gut für die Psyche - etwas ausrichten können, wenigstens das Gefühl zu haben, gibt einige Kraft.

Nächstes Dorf. Irgendwo im Nirgendwo.
Klaus gibt Laut.
Anhalten. Pause.
Wir stellen die Räder ab. Klaus lässt sich in die Wiese fallen. Er ist zu fertig, um "Scheiße" zu rufen.

Als ich meinen Helm abgenommen und das Blutrauschen in meinen Kopf verklungen ist, das Klirren vom Wind in den Ohren abgenommen hat ... hämmert sich ein Rhythmus von noch viel schlimmerer Brutalität in mein Hirn.

Das ganze Dorf bebt.
Es wummert ein Bass.
Es scheppern die Höhen.

Vom Wind herüber getragen - die Beschallung einer ganzen Region: "Lebt denn der alte Holzmichel noch ...?" gröhlen da die Volksmusikanten aus den Boxen einer nicht weit entfernten Schrebergarten-Datscha. Na hossa, denke ich mir, und versuche es zu ertragen, während ich im Gebüsch pinkeln gehe.

Was wäre, wenn das hier das Schlagerdorf ist? Muss es ja, denn als ein - mir gänzlich unbekannter Hit - den Holzmichel ablöst, stelle ich mir ernsthafte Fragen am Zustand unserer Gesellschaft ...

"Deine Seele ist so schwarz wie Whisky ... Du bist so kalt wie Vodka ... Deine Augen sind so braun wie Brandy ..."

Klaus, wir müssen los. Bitte!

Wir unterqueren eine nagelneue Autobahnbrücke - Klaus freut sich zu sehen, wo der Solidaritätszuschlag ankommt. Und ich mich auch. Schließlich bedeuten mehr Autobahnen auch gleichzeitig ruhigere Nebenstrecken, selbst Bundesstraßen, die auf einmal für Radfahrer wie uns befahrbar werden.

Aber die Freude ist von kurzer dauer. Das Gelände wird merklich hügeliger. Wir kommen durch gespenstisch anmutende Wälder. Der Winter steckt hier noch im Gehölz, kaum Grün, dafür verwesendes Laub vom letzten Jahr, totes, nasses Holz, morastiger Boden, es riecht nass. Keine romantische Landpartie - eher Blair Witch Project.

Wald und Wiesen, Felder und Wälder wechseln sich ab. Grandiose Langeweile und atemberaubend weite Landschaften, erstes zaghaftes Grün auf den Feldern, frische Pflanzen noch ganz schüchtern, wagen sich kaum aus den Äckern, an den Windmühlen zerrt die brutale Luft, um wenig später über unsere Räder zu branden wie Wellen. Sie zerrt an uns, laugt uns aus.

So vergehen die Minuten. So zerrinnen die Kilometer. Zäh, hart erkämpft, jeder Meter Vormarsch, kaum brechen wir auf einer windgeschützten Abfahrt einmal die 30er-Grenze, zerschlägt uns in der Senke der Gegenwind jegliche Mobilität. Wirft uns zurück, bremst uns ab, verweist uns auf unsere Plätze. Ganz unten, heute. Ganz ganz unten.

Mittag. Essen.

In Bützow halten wir. Ich muss pinkeln, Klaus schaut nach einer Möglichkeit, sich irgendwo im Innen aufzuwärmen. Was Kleines zu essen. Bützow. Ein Ort, den ich auch noch kenne von meinen beiden Touren - kenne, vom Vorbeifahren.

Und hier nun was essen.
Oha.

Wir entdecken das "Deutsche Haus". Abgeranzt. Zwei Flaggen (wenigstens die aktuellen) wehen vor einem verblichenen Rostocker-Pils-Schaukasten, in dem wohl mal das Tagesmenü werben sollte. Er ist leer. Nein, auf NPD haben wir keine Lust.

Ein China-Imbiss. Es riecht nach Glutamat. Gift sowieso für den Körper - noch schlimmer aber für einen ausgelaugten Körper, der heute noch einige Kilometer treten muss.

Noch ein "Deutsches Haus". Leute, bitte!

Und dann finden wir sie. Eine Zeitreise beginnt.
DDR, bitte eintreten. Heute sogar ohne Zwangsumtausch.

Innen versprüht eine Sprelacart-Orgie vom Feinsten heimelige NVA-Clubheimathmosphäre. Holztäfelung, der man ihren Formaldehydgehalt ansieht, ein Meer an staubigen Plastikblumen, die Kellnerin fragt mich, ob ich "noch den Koch brauche" - Ja, sage ich ihr und denke "Sorry, aber wir haben Hunger."

Klaus kommt vom Klo, seine 5 Schichten Klamotten gegen 5 neue Schichten trockene Klamotten getauscht.

Was wir denn bestellen möchten, fragt sie.

Und ich muss es ordern. Muss einfach. Denn wenn ich schon mal wieder in der DDR sein darf, meiner alten längst vergangenen Heimat, dann muss ich es auch essen. Ich muss. Muss.

"Ein ... Würzfleisch bitte." sage ich.
Und bekomme es.
Klaus nimmt es auch. Und dazu ganz mutig noch eine "Cremesuppe". Maggi lässt grüßen.

Das Raguh-Feng ist nicht der Rede wert. Der Koch hätte ruhig schon Feierabend machen können - so eine Metro-Dose aufmachen und den Scheiß in die Mikrowelle stellen, kann ich auch selbst. Naja.

Die Sonne schickt sich an unterzugehen. Wir stehen, zwei Stunden später, kurz vor Rostock.

Berlin? Nein, Berlin haben wir aufgegeben. Irgendwann wird es Zeit, auf Südkurs zu gehen. Irgendwann in Höhe Schwaan hätten wir eine Rechtskurve fahren müssen - Richtung Berlin.

Das hätte aber auch bedeutet: Gegenwind. Und zwar richtig von vorn. Für nicht weniger als 300 Kilometer. Und für morgen, das weiß ich, ist Regen angesagt. Eigentlich schon für heute, aber Gottseidank ist das Wetter einen Tag zu spät.

Also durch den Gegen bei 11 Grad Kälte mit bis zu 25 km/h Gegenwind?
Never.
Wir gehen auf Nordkurs. Rostock ist auch schön, sagen wir uns.

Rostock ist auch schön, sagen wir uns noch einmal, als wir zwei Stunden später in Warnemünde am Tisch mit Meerblick sitzen. Und das nicht in irgend einem Hotel, sondern in DEM Hotel. In dem Prestigebau der DDR im Norden - das "Hotel Neptun".

Mithin ein aufgemotzter 4-Sterne-Laden, der mit einem Sonderpreis von 38 Euro zum Osterbrunch lockt.

Uns ists egal, wir kehren ein - nachdem wir im Rostocker InterCityHotel unsere Zimmer bezogen und geduscht haben.

Wir essen mittelmäßigen Sauerbraten, schauen wieder Kellnerinnen hinterher und lecken unsere Wunden.

Zum Abschluss, so reden wir uns Mut zu, muss man sagen, dass bei einer solchen Wetterlage dann eben einfach nicht mehr drin war. Und die Bilanz ist bitter - was als lockere 450 km-Tour nach Berlin geplant war, endet in Rostock nach gerade einmal 220 km.

Ich selbst bin dermaßen außer Form, dass ich mir was für das Training einfallen lassen muss. Immerhin steht in 2 Monaten eine 1.400 km-Tour durch Italien an. Und da, da kann ich nicht einfach mal auf einen anderen, angenehmeren Kurs gehen, nein, dann MÜSSEN wir ankommen.

Und Klaus? Klaus ist krank, Fieber, sagt er.
Der Zauber vom Windstopper ist eine Lüge.
Das steht man fest.

Am nächsten Morgen bin ich einziger Nutzer des riesigen Radabteils. Der Zug steuert durch wechselhaftes Wetter. Klaus simst was von Starkregen - ich muss im IC irgendwann die Sonnenbrille aufsetzen, denn die Sonne kommt durch. Herrliches Radwetter, befinde ich.

Ob ich nicht doch noch in Schwerin von Bord gehe in die 100 km nach Hamburg fahre?
N-E-I-N - gibt da klipp und klar meine Kniescheibe schmerzend nach oben.
Und jetzt weiß ich wieder, warum ich heute lieber meine Bahncard bemühe, als meine Waden.

Trotzdem wars eine nette Tour, schreibe ich Klaus, und immerhin - einen Anwärter auf meinen Beitrag zum BentCal 2011 habe ich auch schon gefunden: HP Velotechnik am PowerGel-Mountain. Dramatisch schön, oder?

Gefahren: Etappe Büchen-Schwerin 104,43 km in 4:38 Stunden und 22,5 km/h Schnitt, Etappe Schwerin-Rostock 102,37 km in 4:48 Stunden und 21,3 km/h Schnitt.

Sowas bin ich in besseren Zeiten schon an einem Tag gefahren. Mager. Aber bei diesen Wetterverhältnissen kaum besser zu machen.



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8 Kommentare:

Benji hat gesagt…

Was tust du nur deinem Knie an? Mir selbst noch den Rat geben, es auf dem Spinning Rad nicht zu übertreiben, aber selbst das schmerzende Knie ignorieren? :)

Ansonsten schön geschrieben, beim nächsten Ausritt in die neuen Bundesländer gibt es dann aber den Mettigel, gelle? ;)

Grußn
Benji

Unknown hat gesagt…

ah, stimmt, der mettigel - hat bestimmt auch auf der speisenkarte im gruselrestaurant gestanden ... :-)

bis morgen + grüßle, L

Chris hat gesagt…

Moin Lars,
der erste April ist vorbei. Was heißt denn das hier:
http://www.ligfiets.net/advertisement/10554/speedmachine-edizione-bianchi.html
???
Willst Du auf was anderes wechseln, oder ist Dein Knie kaputter, als der Bericht Glauben macht?
Schöne (und etwas traurige) Grüße,
Chris

Unknown hat gesagt…

hi chris,

nee, ist kein scherz. erklärender post ist in arbeit ... aber keine angst, ich bleibe bent ...

LG L

Chris hat gesagt…

Puuh...
Hatte schon Angst um einen meiner Lieblingsblogs;-)
Lass mich raten: Du kaufst ein Go-One Evolution und nimmst am ROAM teil...
Naja, bin gespannt auf den Post*g*
Gruß
Chris

Unknown hat gesagt…

nee, nee, gar nicht so spektakulär. ich kaufe mir ein kalkhoff-damenrad und schraube nen UDK ran ... :o)

LG

Chris hat gesagt…

Na, da bin ich ja mal gespannt, wie du darau "bent" bleibst;-)))

hinze hat gesagt…

Schöner Bericht, nun weiss ich, was ihr Ostern so getrieben habt. Schade, dass es nicht so gelaufen ist, wie ihr wolltet.
Ähm, so wegen Fitness und so, wolltest Du nicht Ende März Danzig-Bln fahren, so 200km am Tag?