26 April 2009

Self-made Brevet - Einmal Ostsee und zurück

Tja, das war schon ein Ärgernis, letzte Woche, als ich meinen 200-km-Brevet verpasst hatte. Wecker um 5:30 Uhr nach einer harten Woche werden dann doch gelegentlich vom Körper ... dezent ... überhört. Pech gehabt - im Schlaf regiert ein anderes Ich.

Und so liege ich auch heute süß von einem Sieger-Bier träumend im Bett, als ... ich plötzlich eine Idee habe. Welche absurden Gedankengänge mich dazu treiben, weiß ich auch nicht, aber etwas zwickt und zwuckt. Drängt mich. Lässt nicht locker. Bis ich dann eben 8 Uhr - na klaro, ´ne amtlich-christliche Zeit für einen Sonntag - meinen Körper aus dem Bett wuchte und mich startfertig mache.

Timmendorfer Strand. Das Ziel für heute - das selbe, wie beim Brevet vor einer Woche. Ich will ihn nachfahren. Ich muss ich nachfahren. Es ist 9 Uhr, als ich im Sitz meiner frisch geputzten Speedmachine liege und das Liegerad behenden Tritts auf Kurs und Geschwindigkeit bringe.

Wieviel Zeit hatte man beim offiziellen Brevet? 13 Stunden? Na, das wollen wir aber mal tüchtig unterbieten! Es lässt sich gut an. Ein steter, aber nicht arg feindlicher Wind, treibt mich von Nord-Ost her wehend dann doch ab und zu in den Wahnsinn. Immer wieder muss ich das Liegerad auf ruhigen Kurs bringen, wenn es die eine oder andere Böe erfasst und nervös werden lässt. Aber dennoch, so wundere ich mich, kann ich die Maschine mit 30, oft 35 km/h vorantreiben und erreiche nicht selten 45 Sachen.

Das Wetter ist fantastisch - die Sonne hat sich nun also doch dazu entschieden, den Winter hinter sich zu lassen, und so flattert mein orangefarbiges Trikot im Wind, rötet sich zusehens meine Nase und brutzeln die Schenkel, nur leicht bedeckt von einem kühlenden Schweißfilm, in ihren Strahlen.

Gelb grüßt der Raps, dieselt die Landschaft ein und plötzlich, wenige Kilometer hinter meinem schönen Hamburg ... bin ich im Urlaub. Was ist das, was tun die Hersteller nur in die Sonnenmilch? Plötzlich fühle ich mich wohl, wohlig räkele ich mich im Sitz, meinem rollenden Strandkorb, mächtig stampfen meine Schenkel im schnellen Takt, treiben fast geräuschlos mein Rad an. Und ich könnte jauchzen - alles passt. Alles geht. Es läuft. Perfekt.

Dann und wann begegne ich Rennradlern, die zurück grüßen, ja oftmals sogar ein lautes Moin-Moin rufen. Andere Welt - Urlaubswelt. So muss es sein.
Ich schlängele mich an Dutzenden Familien vorbei, die gemächlich auf den Radwegen ihren Kleinen das Fahrradfahren beibringen, hole den einen oder anderen schnelleren Kollegen ein und einmal entlocke ich einer jungen Dame sogar glückliches Jauchzen, als sie mich trotz meiner "Achtung!"-Rufe erst dann mit einem sichtlichen Schreck (und einem intuitiven - aber gefährlichen - Lenker-Schlenker in meine Richtung) bemerkt, als ich direkt neben - und unter - ihr bin. Tja, das kenne ich ...

Meine Schwalbe-Pneus fressen die Kilometer nur so in sich hinein. Ihr unterschwelliges, nach komprimierter Luft und Strömung klingendes Fahrtgeräusch singt das Lied vom Speed. Hier und da kralle ich mich in die Lenkergriffe und trete rein, bescheuert, denn ich weiß, dass ich noch nicht einmal ein Drittel der Strecke hinter mir habe. Aber heute, heute weiß ich, was ich leisten kann. Heute passt es.
So stürze ich Steigungen hinauf, die ich normalerweise mit 20 km/h meistere.
So poltere ich Abfahrten hinab.
Gibt es etwas zu gewinnen?
Klar, das Sieger-Bier. Kalt muss es sein. Bei Abendsonne genossen. So, wie ich es heute geträumt habe.

Einmal Timmendorfer Strand und zurück, bitte. Der Speedmachine-Express hält nicht an jedem Bahnhof. Altbekannte Rastplätze von früheren Touren nach Lübeck lasse ich links liegen. Nein, heute keinen Corny auf der Bank mit dem fantastischen Ausblick über die Heide. Ich hab was vor.
Nur die Pinkelpause, die muss natürlich sein.

Schon pellt sich Lübeck aus dem makellosen Blau. Nanu? Wo ist die Zeit hin? 2 Stunden gefahren? 30er Schnitt? Na bitte!
Ich drehe eine Ehrenrunde ums Holstentor, schnacke eine Minute mit einer liegeradelnden Dame und gebe Gas - heute will in an der Ostsee anschlagen. Und gleich wieder zurück.

Mein Mini-Brevet. Meine persönliche Rendonneurs-Erfahrung. Da ist sie also. Und sie fühlt sich gut an!

Neben mir an der Ampel hält ein Streifenwagen. Ich - wie immer - nicht auf dem Radweg. Den benutze ich nur, wenn ich unter 30 fahre. Heute aber, heute geht was. Heute will ich heizen. Und hier in Lübeck sind die Straßen breit. Ob die Jungs das wohl auch so sehen?
Ich rolle bis weit über den Stop-Streifen, linkes Bein auf den Boden. Meine Cleats schleifen metallern über den Asphalt. Ampel rot. Warten in der Sonne. Ich sehe die silberne Moterhaube in meinem Spiegel. Hoch über ihr die blauen Rundumleuchten.
Gelb.
Grün.
Ab gehts.

Sie überholen mich. Einer lächelt. Ich grüße. Dann schon hat mich der Nächste eingeholt - ein brauner Opel. Der schaut freilich nicht freundlich - wieder so ein Spinner mit dem Rad auf seiner Straße! Nur schade, dass Du nicht hupen kannst, so mit der Polizei vor Dir, was?
Ich grinse auch ihn an. Heute habe ich ein Lächeln für alle, auch für Euch Radweg-Nazis.

Lübeck liegt hinter mir, ich fliege durch Schwartau - einige giftige Anstiege ziehen mir den Saft aus den Waden, aber ich gebe Gas. Nur noch 16 Kilometer bis Timmendorfer Strand verspricht ein Schild. Merklich viele Porsche unterwegs, als ich hinter Ratekau abbiege und mich - nun mit Wind straight von vorn - an die letzten Umdrehungen mache.

Familien-Slalom und Rennradabhängen ist wieder angesagt. Einmal gerate ich mitten in eine festlich in Schwarz gehüllte Konfirmandengesellschaft. Ich muss heftig quietschend herunterbremsen, da die Gläubigen einer Prozession gleich den gesamten Radweg okkupieren. So komme ich atemlos vor ihnen zum stehen, sie stoppen, schauen mich an, wie Schäfchen, machen große Augen - soll ich denn jetzt etwa was sagen? Die eine oder andere Oma wird ein spontanes Stoßgebet gen Himmel geschickt haben, dann endlich, langsam, geben sie den Weg frei. Und so teilt sich die schwarze Masse, und ich, wie Moses, gleite ich durch hohe Flanken Smokingtragender - im leuchtenden Orange, aber bequem liegend.

Ich sehe den Konfirmanden sich umdrehen, er schaut mir lange nach, wie ich im Rückspiegel erkennen kann, träumt sich wahrscheinlich raus aus seinem zu eng sitzenden Gesellschaftskorsett, hinauf auf so ein schnelles Gefährt, wie dem meinen. Das nun schon außer Sichtweite hinter dem nächsten Rapshügel verschwunden ist.

Und während er sich wohl noch die Predigt des Pfarrers anhört, etwas übers Erwachsensein lernt, gleite ich ins Städtchen Timmendorfer Strand. Zunächst etwas orientierungslos, aber Küstenorte sind ja immer gleich, so suche ich den Strand und finde die Promenade. Auch hier - Ferrari, Porsche und jede Menge Gucci am Straßenrand. Nicht mein Revier, denke ich. Und beschließe, meine Kohlehydratreserven aufzufüllen, das Wasser zu grüßen und sogleich den Rückweg anzutreten.

Ich starre in die smaragdgrüne Ostsee, die klar, aber träge, an der Seebrücke wabert, während ich zwei riesige, vorzügliche Matjesbrötchen verdrücke. Langsam beginne ich den Blutfluss in meinen Waden zu spüren - wie es heiß brennend durch die Arterien rauscht, sehe ich, wie meine Hände leicht zittern, merke, wie ich nach jedem Schluck Schorle husten muss - meine Lunge ist noch auf Volllast eingestellt. Mit so kleinen Luftzügen im Ruhemodus hat sie wohl gar nicht gerechnet.

Draußen liegt leichter Nebel über dem Strand. Es ist eben doch noch kein Hochsommer. Trotzdem sind die Strandkörbe gut besucht. Gut betucht, die Klientel hier, muss ich wieder erkennen, als einer seine Dame zur Düne führt. Im Haar-Gel spiegelt sich in jeder Strähne eine Sonne - der Mann glänzt. Streifenhörnchen mit Lichteffekt. Und so ein schickes Sakko hat er an.
Aber seine Dame schlägt alles - ein hautenge Lederhose betont ihre ausgesprochen tolle Figur, deren untere Enden in aufregenden Lederstiefeln stecken, deren mindestens 20 cm hohe Pfennigabsätze sich wiederum in den feinen Ostseesand bohren.

"Njet" sagt sie nur. Beim Kopfschütteln blendet mich einige Male das riesige Dior-Logo, das auf ihrer Sonnenbrille prangt. Etwas enttäuscht, aber einsichtig, nimmt das Steifenhörnchen die Hand seiner Holden.
So müssen sie halt den gepflasterten Boulevard entlang flannieren - ohne Sicht aufs Meer. Dafür mit Porsche.

Ich mache noch ein Foto auf der Seebrücke - dann schwinge ich mich wieder aufs Liegerad. Die Rückreise steht an. Und dieses mal - mit Rückenwind!

Wo ich vorhin noch 30 km/h gefahren bin, mache ich jetzt 35 und mehr. Wo ich gerade noch schnaufend den Anstieg hinaufgefighted bin, krache ich jetzt hinab als gäbe es kein Morgen mehr. Ehe ich mich versehe, komme ich bei der Konfirmation vorbei - aber keiner zu sehen. Warscheinlich lernt er noch Erwachsensein.

Ratekau - ein Rad liegt auf dem Radweg, ich bremse, springe auf und renne zu einem älteren Pärchen, die dem offensichtlich Gestürzten die Böschung hinauf helfen. "Kann ich helfen?" rufe ich sogleich. Sie lachen. Tränen. Können gar nicht mehr.
Sie schütteln nur den Kopf, winken ab. Wollen sprechen, aber bringen kein Wort raus.
"Pinkeln ..." sagt der Gerettete und prustet wieder los.
"Wirklich alles okay?" insistiere ich.
Ja, alles okay, versichern sie mir. Kollege Pullermann ist wohl die Böschung hinabgerutscht. Naja. Ich kenne das ja, mit den Gleichgewichtsstörungen, wenn man das Ding auspackt ...

Weiter gehts, Ratekau, Schwartau und Lübeck fliegen vorbei, dass es nur so splatattert, einer hupt mich dauernd an. Ein Rentner. Nichts gegen Renter, aber ... naja. Ich hänge mich in seinen Windschatten - und obwohl mir die Kniescheiben schon wehtun, lasse ich nicht locker.
Sein nervöser Blick in den Rückspiegel alle paar Sekunden ist es wert. An jeder roten Ampel wettert er in seiner stickige Blechkarosse vor sich hin, meckert und mosert. Ich grinse. Atme draußen die frische Luft, blinzele in die Sonne und fahre weiter.

Kurz vor Hamburg gerate ich auf den schlechtesten "Radweg" der Welt. Am Airport wird gebaut. So weit, so gut. Der Radweg behelfsmäßig auf Schotter verlegt, eingezäunt. Auch okay.

Aber Leute, bitte - SOLCHE Brocken findet man normalerweise nur bei Mountainbike-Weltcups oder nach Erdbeben! Wer soll denn auf diesem - noch nicht mal halbwegs verdichteten - Schutthaufen fahren?

Ich fahre. Schritt. Aber alle anderen, die ich überhole, schieben. Was nicht weiter wild wäre - allerdings auf einer Länge von 2 Kilometern ist das echt eine Zumutung! Aber - so merke ich wenigstens, dass sich mein kleiner Self-made Brevet dem Ende neigt. Denn sone Radwege gibt es nur in Hamburg. Ich bin zu Hause!

Ich komme an.
Und bekomme mein Sieger-Bier.
Siehste, so ist das, wenn man einfach mal morgens um 8 an einem Sonntag die Idee hat, die Ostsee sehen zu wollen.

Einen Haken hat die Sache allerdings doch - für den 200 km-Brevet fehlen mir 30 Kilometer (und eine Stunde Fahrtzeit mehr). Aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie die Streckenführung letzte Woche im Original war. Und mal ehrlich, so weit geht mein Spleen dann doch nicht, dass ich noch 30 km hinten dran hänge.

Obwohl ... beim nächsten mal vielleicht ...


Gefahren: 172 km in 6:03 Stunden (Netto) und 7 Stunden mit Pause bei 28,4 km/h Schnitt.


Liegerad-Highlights 2008: Die besten Touren mit der Speedmachine

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Larsi, Du bist echt der Hit! Musste so herzhaft beim Lesen lachen. Besonders bei den Gleichgewichtsstörungen...

Bis morgen Du Held der Straße zum guten Morgen to youuuuuu!