17 Dezember 2008

Übertraining ...?

Übertraining - gibt es so etwas? Kaum vorstellbar, vor allem für Leute, die es schon für Sport halten, mit zwei Tüten vom Lidl nach Hause zu gehen. Sich über-zutraineren, das klingt wie "ich löse in meiner Freizeit gern Vektorgleichungen und kann nicht genug davon bekommen." Aber Übertraining ist real.


Bei mir kam die Botschaft gestern an. Ich meine, ich bin echt fleißig. Wie eine Biene. Ich habe ein Ziel. Und kenne den Weg dahin. Ich weiß, dass er steinig und lang ist, aber ich weiß auch, dass es sich am Ende gelohnt haben wird. Zudem: Wer glaubt, dass Muskelaufbau und Konditionstraining ein Zuckerschlecken sei und nicht ohne Schmerzen, Plackerei und Schweiß abgeht, der hat sich sowieso getäuscht - umsonst ist nix in diesem Universum.

Und so ziehe ich mich jeden Abend um - frisch heimgekehrt von einem mehr oder weniger harten Tag in der Agentur - die enge Radlerhose, die Funktions-Socken und die Click-Schuhe lösen die förmliche Werber-Kleidung ab. Dann lege mich in den Sitz meiner Speedmachine - atme durch und freue mich auf die nächsten 60 Minuten Stufentraining.

Nein, ich freue mich echt.
Wirklich.
Bin ganz wild darauf. Kann mir gar nicht vorstellen, wie es anders sein könnte. Wie gesagt, er hat ein Ziel, der Liegerad-Fahrer. Nämlich die Kondition soweit aufbauen, dass er 2009 im Frühjahr Vollgas geben kann, dass der Ritt nach Paris zu einem Kindergeburtstag wird und die Tour durch Canada über die Rocky Mountains zu einem Zuckerschlecken.

Enthusiasmus, der allerdings auch nach hinten losgehen kann.

Meine derzeitige Abendlektüre, die "Trainingsbibel" von Joe Friel, sie warnt eindringlich vor "Übertraining". Er schreibt von Sportlern, die so vernarrt, so verbissen sind, dass man bei ihnen schon wirklich von Junkies sprechen kann, da sie alle Anzeichen einer Suchtausprägung zeigen. Wie Drogensüchtige kennen sie nur noch eines: Bei ihnen ist es das Abmühen, das Schwitzen, sind es die Schmerzen und die Zwangsvorstellung, dass ein Tag ohne Training eine Katastrophe sei, die die ganze Fitness infrage stellt.

Ohne System, ohne Verstand. Sie sind Süchtige. Krankhaft. Sie powern ohne Pause.

Friel schreibt, dass man maßvoll trainieren soll. Seinem Körper die Überbelastungen, an denen er wächst, sinnvoll dosiert verabreichen soll. Und dass man aufhören soll, wenn es nicht mehr geht - Stay healthy - das oberste Gebot. Man soll sich Pausen gönnen. Und abbrechen dann, wenn es keinen Sinn hat.


Ich glaube, ich bin auch so ein kleiner Übertrainingskandidat. Zumindest in einer leichten Form: Heute werde ich einen Termin haben und nicht trainieren können. Seit einer Woche beschäftigt mich das. Verdammt - heute fällt eine Stunde aus!

Gestern dann das Malheur, das mich aufweckte und mir die Bedeutung von Friels Worten wahrhaft plastisch vor Augen führte: Ich trainierte, alles lief. Doch ab der 30ten Minute hatte ich das Gefühl, dass mir meine Leiste platzt. Einfach so. Bei jedem Tritt, es fühlt sich an, als würde jeden Moment einem Peitschenschlag gleich die Leiste explodieren.

Symptom des Übertrainings: Normalerweise hätte ich jetzt die letzten 30 Minuten durchgeprügelt. Bin halt eine harte Sau. Aber Joe Friel hat es mir beigebracht - es ist okay, abzubrechen. Das Wichtigste ist, gesund zu bleiben.
Ich stieg ab.
Enttäuscht.
Aber froh zugleich.

Man muss Scheitern auch zulassen können. Um an ihm zu wachsen. Sicher kam der Schmerz vom Training des Vortages.

Denn mein Trainingsplan ist so aufgebaut, dass er ein kleines Rennen simuliert. Zunächst die Startphase, in der sich das Feld sammelt und man alle Hände (Beine) voll zu tun hat, sich vom Peloton abzusetzen oder zumindest eine schöne, bequeme Position im Feld zu erreichen (das simuliere ich mit 3 x 5 Minuten stetig steigender Wattzahl von 120 auf 180).

Dann folgt die Rennphase. Alle haben ihren Platz, fahren im Feld. Es rollt. Man müht sich - tötet aber nicht seine Waden (simuliert durch 35 Minuten bei 140-150 Watt Dauerbelastung).

Zwischendrin mal 5 Minuten bei 120 Watt. Windschattenfahren.

Und dann, dann kommt die Schlussphase. Der Parforceritt. Zunächst sind alle nervös, einer um den anderen rüttelt sich kurz auf, sprintet nach vorn. Das Feld strengt sich kurz an, holt ihn ein. (simuliert mit 5 Minuten bei 150 Watt nach bereits 55 Minuten im Sitz der Speedmachine)

Und dann, dann der Mord. Tod aller Muskeln. Verderben und Höhepunkt zugleich: Der Sprint. Die letzte Minute. Alles geben, wo eigentlich nichts mehr ist. Alles rausholen, wo eigentlich schon seit einer Viertelstunde gähnende Leere herrscht.

1 Minute bei 250 Watt.

Es ist Schmerz pur. Der Mund weit aufgerissen, zum Schreien geöffnet - aber hastig Sauerstoff einsaugend. Man möchte brüllen, ist aber froh, wieder einige Liter Sauerstoff statt dessen in den Körper gepresst zu haben.

Und diese letzte Minute bei voller Kraft, sie war dann wohl auch der Grund, warum sich bei mir einen Tag später dann letzendlich die Leiste verabschiedet hatte.

Und so bekam das gute Stück dann gestern auch eine ordentliche Portion von einer tollen Zaubersalbe namens "Traumaplant" verabreicht. Nicht nur, dass die geschundene Leiste einen frischen Wohlgeruch verströmte - heute morgen fühlt sie sich wieder wie neu an. Supermittel!


Und irgendwie bin ich erleichtert, denn ich weiß, dass sich heute mein Körper, der alles andere als ein Athletenbody ist, erholen kann, die Leiste vorneweg, um dann morgen wieder alles zu geben.

Eine Stunde. Hartes Kurbeln bei dröhnender House-Musik. Schweißperlen in Frottierhandtüchern, Zähne zusammen um die Wattzahlen zu halten, Stechen in den Waden: Wir ignorieren es ... und dann, nach 59 Minuten, der Endspurt, noch einmal alles mobilisieren, scheißegal, ob es weh tut, alles raus zum Rapport, wir werfen alles an die Front, treten, dass das Rad in der Verankerung der Rolle zittert, meine Scheiben wackeln und die Nachbarn denken, ich fahre Traktor im Wohnzimmer - dann, wenn es eine Minute mit über 250 Watt zur Sache geht, ich meine Zähne zusammenbeiße und die Lunge Stöße atmet, der Sauerstoff nur so ins Blut schießt, die Scheiben beschlagen und ich dampfe vor Hitze wie ein Ofen, wie eine Herdplatte ohne Topf.

Süchtig? Ach iwoo ... nur motiviert.


Die Highlights in 2008: Mit dem Liegerad durch Portugal und Die Speedmachine in Schweden

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