06 Juli 2008

HH - Rudower See, Tag 2: Von einem Kribbeln zum anderen.

Es war zumindest nicht die Sonne, die mich wach kitzelte. Und von seichtem Luftzug konnte in dem stickigen Zelt, das sich langsam aufzuheizen begann, keine Rede sein. Die Nacht war, naja, gewöhnungsbedüftig. Denn es hatte den Anschein, als hätte die Kiefer, zwischen deren Wurzeln ich mein Zelt aufgeschlagen hatte, über Nacht noch ein paar besonders knöcherige ausgetrieben - und das natürlich genau unter meiner Isomatte.

Zudem entpuppten sich meine Zeltnachbarn - das war mir vor lauter romantischer Verzückung gestern abend gar nicht so bewusst geworden - als ein ziemlich lebensfrohes Ehepaar aus Leipzig, die ihrer Campinglust nach gewohnt und geliebt mundartlicher Manier Ausdruck verliehen.
Gegenüber, das heißt, neben dem Campingplatz, befand sich ein christliches Begegnungszentrum, in dem bis in die späte Nacht hinein mehr oder weniger begabte Sänger ihrer religiösen Verzückung mit Chorgesängen und Klassikern des Geospelgesangs fröhnten.
Ich weiß nicht, was ich schlimmer fand - aber als toleranter Mensch soll doch jeder nach seiner Fasson glücklich werden.
Gerade hier, am Idyll im Wald.

Und so stand ich ächzend auf - mittlerweile war es 6:30 Uhr und da kann man das ja schonmal machen, zumal ein Rest der beiden großen Pils von gestern Abend sich brennend bemerkbar machte und unbedingt in die gepflegte Keramikschüssel des Sanitärhauses wollte.

Ich trat nach draußen.
Schüchtern versteckte sich die Sonne noch hinter den Wipfeln der Kiefern. Dafür war es still. Fast jungfräulich dieser Tag. Bereit, von mir erobert zu werden. Zähneputzen war angesagt.

Als ich wiederkam bemerkte ich etwas Seltsames an meinem Zelt. Schon von weitem fielen mir unzählige, komische schwarze Punkte auf. Beim Näherkommen erkannte ich es: Ameisen.
Eine ganze Armada.
Tausende mochten es sich da auf meinem Iglu bequem gemacht haben. Und das Verblüffendste - sie bewegten sich nicht einmal. Schliefen wohl alle noch, träumten wohl von einem perfekten Riesenbau. Es sei ihnen gegönnt - mein Heim soll auch Euer sein. Was nur gerecht war, denn anscheinend hatte ich meine Zeltplane genau auf ihrem Bau aufgestellt.

Nachdem ich die Meisen mit einem Wisch von meiner Plane und aus ihren insktoiden Träumen befördert und alles zusammengepackt hatte, verließ ich Punkt 7 Uhr den Platz.
Ohne Kaffee.
Ohne etwas gegessen zu haben.
Wie war das doch gleich mit dem Kaiserfrühstück?
Ich nahm mir vor, bei der nächsten Tankstelle eben dieses nachzuholen.

Doch erstmal musste ich mich durch den Wald kämpfen. Kein Auto auf den perfekten Asphaltstraßen. Und so genoss ich das Gefühl, allein auf der Welt zu sein und fuhr Slalom zwischen den Fahrbahnmarkierungen, fuhr mitten in der Mitte einer B-Straße und stellte mir vor, gleich abzuheben mit der Speedmachine, wenn es einmal heftig bergab ging und ich an Fahrt gewann.

Es war ein besonderes Gefühl, so allein durch die Wälder fliegen zu können. Und ich hätte es wohl auch weit mehr genießen können, wenn da nicht langsam das verpasste Frühstück seinen Tribut forderte.

Ortschaft um Ortschaft wechselte sich ab. Mittlerweile knurrte es immer heftiger in meinem Bauch. Das Steak war längst schon verdaut und sein wertvolles Protein an die nach Eiweiß schreienden Muskelstränge meiner Schenkel und Waden verteilt.
Nachschub, rumorte es in meinem Bauch, Nachschub!

Doch keine Bäckerei hatte geöffnet. Zu früh. Zu viel Sonntag. Zu tiefes Brandenburg.

Eine Tankstelle musste her. Eine Aral, mit einem fetten Bistro. Das stellte ich mir nun vor: 3 Donuts, schön frisch und saftig, vor Fett fast triefend. Dazu einen großen, süßen Macchiato.
Aber es kam nichts.
Schon 20 km gefahren, und so hungrig, noch schläfrig.
Ich rettete mich von Kurve zu Kurve, langsam wurde es unangenehm. Denn mit leerem Bauch - das weiß ich jetzt nun auch - fährt es sich wirklich richtig scheiße. Wieder ein Dorf. Und wieder nichts. Wieder einen Wald passiert. Und wieder nichts. 40 km gefahren. Schon den zweiten Corny gegessen, was aber auch nichts half. Denn langsam ging auch die Wasserreserve zur Neige.

Da endlich - Neuhaus, die erste wirklich große Gemeinde. Und da fand ich sie, die Tankstelle meiner Träume! Wo es zwar keine Donuts (oder sonstiges Gebäck) aber wenigstens den Kaffee gab. Den ich genoss. Wärmend rann das süße Gebräu die Speiseröhre hinab, schmeichelte meinem Gaumen, erweckte auch den letzten Rest aus dem Schlaf.
Ich hatte 58 Kilometer hungrig strampeln müssen, um in diesen Genuss zu kommen.

Gestärkt und guter Dinge ging es an den Rest der Tour. Vorbei an der Löcknitz, die sich vor Morgennebel dampfend einige Kilometer neben mir entlang schlängelte. Wieder durch die schönen Kiefernwälder, deren Duft um diese frühe Tageszeit noch intensiver wirkte, vorbei an Deutschlands größter Binnendüne, an endlosen goldenen Getreidefeldern und eins ums andere mal über kleine und größere Nebenarme von Mutter Elbe.

Was sich gestern als Segen heraus stellte, das war heute Garant für große Augen und Zähnezusammenbeißen: Denn wer einen Berg hinabrollt, der muss ihn früher oder später auch wieder hinauf. Und da ich gestern mit so manch rasanter Abfahrt belohnt worden war - ein Kredit - musste ich diese heute wieder hinauf. Und zwar sie alle. Alle Abfahrten, das war mir klar, denn ich fuhr die selbe Strecke wie gestern. Zeit, den Kredit abzuzahlen. Radlerschicksal, aber weniger erschreckend, wenn man es philosphisch nimmt.

Und so schraubte ich mich zunächst die Mörderabfahrt in Boizenburg wieder hoch. Ohne Radweg im kleinsten Gang bei mickrigen 5 km/h, schwitzend, kein Fahrtwind der kühlt und ständig ein Auge im Rückspiegel ob sich nähernder Autos - keine schöne Sache. Aber eine, die dazugehört. Redete ich mir immer wieder ein.
Oben angekommen, den Elbberg retour, passierte ich wieder den ehemaligen Grenzübergang, der mithin als Imbiss "Checkpoint Harry" genutzt wird. Eine Grenzwurst wollte ich mir aber nicht gönnen und lenkte die Speedmachine auf niedersächsisches Gebiet, wo schon drohend der Anstieg nach Lauenberg am Horizont lauerte.

Aber auch das war überraschenderweise kein großes Problem. Ruhig und gelassen, meinem eigenen Rhythmus folgend, trat ich rund in die Pedale und schob mich mitsamt meiner Ausrüstung liegend die schiefe Ebene empor.

Da kam ich an einer riesigen roten Rose vorbei. Zunächst hielt ich sie für eine optische Täuschung. Dann überlegt ich kurz, ob ich im Time-Tunnel der Grünen Hölle vielleicht geschrumpft worden wäre. Alles Quatsch - aber ein Foto war es mir doch Wert.
Als ich aussteigen und es machen wollte, wurde mir erst richtig bewusst, welche Anstrengung die Fahrt mit all ihren Anstiegen bis hierher war - zumal ja noch 160 km vom Vortag in den Strängen brannten.

Ich ließ mich ächzend in den Sitz fallen und brachte mühsam die Speedmachie und mich in ihr auf Fahrt. Als groß und bunt im Rückspiegel ein Rennradfahrer auftauchte. Er setzte gerade zum Überholen an.

Muskeln im anaeroben Bereich?
Schmerzen?
Keine Puste?
Zwicken in den Knien?
Drau gesch****! Ich lasse mich nicht überholen. Zumindest nicht kampflos.

Also gab ich Gas. 25 km/h in den Steigungen (mit meinem Gepäck eine Knochenarbeit), knappe 40 km/h, wenn es einmal bergab ging. Und da hatte er keine Chance. Anfangs versuchte er noch, sich in meinem Windschatten anzusaugen - da ich aber mit der tiefen Speedmachine kaum einen solchen produziere, gelang ihm das nicht. Bergab und auf den Geraden fuhr ich ihm davon, aufholen konnte er bei den Steigungen. Aber immer nur so weit, bis der Kamm erreicht war, zu dem ich mich verbissen hoch prügelte. Dann half ihm auch das Aufstehen aus dem Sattel nichts - ein Liegerad kann man nicht einholen. Basta!

Unser kleiner Kampf zog sich bis Geesthacht hin, wo der Rennradler irgendwann entnervt abbog. Ich freute mich - denn dieser mit einem leichten High-Tech-Rad und ohne Gepäck ausgerüstete Mann, dessen dicke Waden fast meinen gesamten Rückspiegel ausgefüllt hatten, hatte mich nicht einholen können. Mein stiller Triumph währte allerdings nur kurz - schnell merkte ich, wie sehr diese sinnlose Wettfahrt meine letzten Kraftreserven verbraucht hatte. Schwer atmend erreichte ich (endlich!) ein Aral-Bistro, das mich mit einer riesigen Wurst und viel Trinken versorgte.

Die letzten 50 km vergingen wie im Fluge. Oder eher, wie in Trance.
In Hamburg selbst musste ich noch einmal Obacht geben, denn der Triathlon war in vollem Gange. Aber schließlich erreichte ich mein Niendorf, konnte entladen, duschen und mir einen schönen heißen Kaffee machen.

Tolle Fahrt - und genau das richtige Abschlusstraining für Portugal. Vor der iberischen Steilküste, harten Atlantikwinden und der fiesen Südsonne muss ich nun keine Angst mehr haben.

Oder doch? Jedenfalls kribbelt es ganz gewaltig in den Waden - in einer Woche um diese Zeit werde ich in Lissabon aufbrechen.

Gefahren: 151,41 km in 6 h 21 min und 23,9 km/h Schnitt.
Tour gesamt: 310 km

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