06 Juli 2008

HH - Rudower See, Tag 1: Eine Grüne Hölle bitte.

Das Wetter versprach schön zu werden. Zumindest signalisierten die Wolken ihren Willen zum Aufbruch, dahinter glühte schön kräftig die Sonne vor, sie wollte es uns an diesem Tag ja auch besonders heiß machen, hatte sie doch richtig was nachzuholen, nach den verkorksten drei letzten Wochenenden in Folge.

Ich stand auf, genoss einen Kaffee und quälte mir eine Schüssel Müsli rein. Ich mag kein Frühstück essen. Mochte ich noch nie. Aber wer bei Kaiserwetter königlich chauffieren will, der muss eben auch frühstücken wie einer. Dazu gab es Fürst Bismarck-Wasser-Granini-Mix.

Punkt halb Neun rollte ich vom Platze. Vor mir lag eine ca. 160 km lange Etappe. Eine letzte Distanzfahrt vor meiner großen Fahrt von Lissabon nach Porto, die nächste Woche ansteht. 160 km heute also. Ich wollte zum Rudower See, ein Idyll - so versprach die Website - mitten in der Prignitz im schönen Land Brandenburg. Eine Fahrt gen Heimat, sozusagen.

Doch zunächst kämpfte ich mich mit der frisch aus der Werkstatt vom 4.000-km-Check überholten Speedmachine durch eine menschenleere Hansestadt, die auch ohne Autos ihre Tücken hat. Aber sich jetzt hier zum x-ten mal über mannstiefe Schlaglöcher, haushohe Kanten "abgesenkter" Radwege und intelligenter Radweg-Verkehrsführung aufzuregen, bringts ja auch nicht.

In Bergedorf, das war mir neu, kann man abbiegen und direkt an einem Arm der Elbe (Norderelbe?) entlangfahren. Das hatte etwas von englischem Park, Central Park und riesen Hundewiese, ist aber sehr entspannend und dürfte für die Bergedorfer eine Oase der Ruhe bedeuten.
Würde nicht hinter einer 10 m hohen Böschung in einigen Metern Höhe die Stadtautobahn entlang brausen. Aber man kann nicht alles haben ... schön ist es dort allemal.

Ich fuhr ein kleines Rennen mit einem Rennradfahrer, das ich trotz beachtlicher Zuladung gewann. Vorbei am Zentrallager des Dänischen Bettenlagers und einigen anderen Industriebauten schoss ich bergabwärts. Etwa 1,5 km zieht sich ab Bergedorf eine wunderschön gebogene, ebene Kurve gen Geesthacht. Ein Traum - und bestimmt eins meiner nächsten Ziele, wenn es um einen neuen Geschwindigkeitsrekord gehen sollte.

In Geesthacht kaufte ich mir bei einem netten Mädel vier Bananen und bemerkte dabei, dass am Hinterrad eine Ventilschraube und die Ventilabdeckung fehlten. Ich habe keine Ahnung, wozu die Teile gut sind, aber ich dachte mir, dass sich ein Unternehmen wie Schwalbe schon etwas dabei gedacht hat, diese Dinger anzubauen.
Also kurvte ich erst einmal ein bisschen in Geesthacht herum, auf der Suche nach einem Fahrradladen (der dann auch hoffentlich offen haben würde). Ein paar ältere Damen, die eine angetaner als die andere von meinem Rad (oder sind es meine Schenkel gewesen, die ihnen muskulös und keck entgegen reckten?), gaben mir dann den richtigen HInweis und schnell fand ich das Geschäft.
Das dann auch noch offen hatte. Sonnenkind, ich. Ein hilfsbereiter Inhaber verkaufte mir sogleich die Teile und bei der Gelegenheit fragte ich gleich mal nach dem Weg. Es folgte eine seitenlange Erklärung, wo und wo nicht ich langfahren solle, ich vergaß natürlich schon nach dem zweiten Satz, wo ich im ersten Satz nochmal hinfahren sollte, aber eines, das blieb hängen:

"Und dann, dann biegen Sie ab und kommen an Krümmel vorbei. Wissen Sie? Krümmel. Das Kernkraftwerk. (Pause) Also, ich denke, das muss man mal gesehen haben ...!"

Muss man nicht, dachte ich mir, gab ihm einen Euro und steuerte wieder auf die B5 Richtung Lauenburg zu.

Die Stadt selbst ist kaum der Rede wert, aber die Abfahrt, die sich ihr anschloss: Wieder ging es über fast 2 Kilometer bergab. Der frische Wind des jungen Morgens ließ einen dünnen Wasserfilm in meinem Gesicht kondensieren, es knallte in den Ohren und das Schaltwerk surrte sein ihm eigenes Frohlocken in die feuchte grüne Böschung neben mir.


Dann fuhr ich ein in die Grüne Hölle. Laubwald, ein paar Lärchen, und immer wieder dichte, grüne Berge aus Blättern. Es türmte sich über mir auf, flirrte in den Augenwinkeln und herrschte über den Himmel, der immer nur kurz durch das Blätterdach zu sehen war. Licht und Schatten spielten ihr Spiel, das umso bewegender wurde, je schneller ich fuhr.
Morgens, wenn der Tag noch frisch ist, der letzte Reif der Nacht herunter tropft und die Bäume noch nicht unter der ätzenden Last stickiger Autoabgase ächzen, ist die beste Zeit, einen Wald zu riechen. Seine Kraft zu spüren und seinen Duft auf der Zunge zu schmecken.

So ging es rasant und doch ein wenig verträumt nach Boizenburg, der ehemaligen Grenzstadt der DDR. Ich erreichte sie und hielt kurz inne - befand ich mich doch auf einem Berg hoch über dem Land. Der Elbberg. Was für eine Aussicht auf die mächtige Elbe, die hier hinter einem Wehr eine riesige Kurve machte und abbog und ganz weit hinten in den Horizont floss. Ein toller Ausblick, wohl einige Dutzend Kilometer weit.
Doch wenig Zeit für eine Andacht.
Ich fuhr weiter.

Und auch dieses mal wurde ich überrascht - mit einer weiteren Abfahrt nach Boizenburg hinein. Kurzer diesmal, aber wesentlich steiler. Hier fand sich dann auch die Stelle der höchsten und der niedrigsten Geschwindigkeit dieser Tour: Bergabwärts 57 km/h und auf der Rücktour 5 km/h.

Es schloss sich eine recht trostlose, meist für Agrar genutzte Landschaft an, die sich erst änderte, als ich Meck-Pomm und Niedersachsen (deren Landesgrenzen ich gleich mehrere Male überquerte) verließ und in Brandenburg einrollte. Die Prignitz hatte mich.

Und das kam er wieder ... der Wald. Doch diesmal, es war schon weit nach Mittag und die Sonne brannte unbarmherzig danieder, kein feuchter, hanseatischer Laubwald. Dieses mal waren es mächtige brandenburgische Kiefern.

Der Wald meiner Kindheit. Sofort holten mich heftige Erinnerungsschübe ein, mit jedem Atemzug, den ich tätigte, mit jedem Mal, da harzgesättigter Sauerstoff meine Lungen füllte und mein Gehirn anregte, längst verschütt geglaubte Erinnerungsfetzen freizugeben. Ich rollte seelig grinsend durch die Kiefern, erfreute mich an weißem Sand, der ab und zu zu sehen war und mich so an meinen märkischen Sand erinnerte.

Und immer wieder diese Kiefern mit ihren hohen, orangefarbigen Stämmen, der ruppigen Rinde unter der das Harz gerinnt und hoch oben, fast 30 m über mir, die Kronen aus frischen, grünen Nadeln, die Schatten spendeten und dem Harzgeruch eine nach Leben riechende Note beimischten. Ein Speedmachine-Flug in die Vergangenheit. Eine Reise in meine Kindheit. Ein Genuss der ganz besonderen Art.


Und irgendwann hatte ich Lenzen erreicht, der Ort, an dem gar nicht weit entfernt, mitten im Wald, ein Campingplatz sein sollte. Und mit ein paar Minuten letzter Anstrengung in sängender Mittagshitze erreichte ich schließlich die Pforte, wo eine flohlockende Berlinerin mir die selbe öffnete und mich herzlich willkommen hieß.

Der Platz fügte sich idyllisch in einen Abhang ein, der zum Rudower See hinab führte. Die Website hatte nicht zu viel versprochen. Der Ausblick war herrlich, die Luft machte Lust auf mehr und vermischte sich nun mit dem feuchten Geruch eines sauberen Waldsees. Das Kreischen planschender Kinder, grüßende Camper und viele Flaggen aus aller Herren (Bundes-)Länder versprühten sofort ein heimeliges Gefühl.

Im Schatten einer Kiefer zwischen alten, vom Regen blank geputzten Wurzeln, schlug ich mein Zelt auf, streifte die schweißnassen Radklamotten ab und duschte erst einmal ausgiebig in den nagelneuen und vorbildlich gepflegten Sanitäranlagen des Platzes.

Einen 2 km-Waldspaziergang zum nächsten Restaurant, ein schweres Maredo medium und zwei Pils später saß ich wieder am See, hatte mir eine Bank direkt am Ufer gesichert.

Ich zog überflüssige Klamotten aus, verfluchte meine Schusseligkeit ob der vergessenen Badeklamotten, streckte meine brennenden Waden von mir und sah langsam die Sonne untergehen.

Wenn der Erholungseffekt dieser kleinen Tour nicht eh schon im feuchten Laubwald bei Geesthacht eingesetzt hatte, dann tat er es jetzt.
Entspannen.
Atmen.
Fast meditativ - nur da sein.

Ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann.
Ein Gefühl, das nur nachvollziehen kann, wer sich nicht in einer Blechbüchse mit 200 km/h über schnurgerade Autobahnen jagt, sondern es sich mit seiner eigenen Körperkraft erfährt.

Dann war Nacht.
Die Grillen zirpten mir eine Gutenachtgeschichte.
Der Schlaf kam schnell und tief.

Gefahren: 158,62 km in 6 h 28 min bei 24,5 km/h Schnitt



Hinweis: Tag 2, die Rückfahrt, lesen Sie im folgenden Beitrag. Sie finden diesen auch rechts in der Navigationsleiste.

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